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@ Monika Wolff
2025-05-11 18:40:50Wir sprechen kein Wort mehr miteinander, weil es weh tut
Viele Menschen haben in den letzten Jahren den Kontakt zu wichtigen Bezugspersonen verloren. Viele Menschen haben auch neue Leute auf der Straße oder durch Netzwerke kennen gelernt. Und manche Menschen hatten das Glück, schon vor der inszenierten Krise einen unterstützenden und stabilen Freundeskreis zu haben und haben diesen immer noch. Manchmal kommen alte Leute wieder zurück ins Leben, weil sie merken, dass man es gut mit ihnen meinte, als man vor den unglaublichen Lügen der Amtsträger warnte. Manchmal kommen alte Leute auch nicht mehr zurück, weil die Scham, auf falsche Versprechen herein gefallen zu sein, zu groß ist. Man gibt sich dann nach außen unverändert souverän und zieht es vor, still und heimlich zu leiden. Die neuen Kontakte bestehen manchmal leider auch nur temporär, sind zweckgebunden. Kaum ist die gemeinsame Aufgabe vollbracht, trennen sich die Wege wieder.
All das muss man in diesen Tagen gehäuft aushalten. Alles verändert sich in stärkerem Maße als sonst. Viele dieser Veränderungen tun weh. Man kann sich auf Trauma nicht vorbereiten. Nie.
Ich möchte jetzt keine schlichten Alltagsbeobachtungen darüber widergeben, wie ich selbst oder Menschen in meinem Umfeld in den letzten Jahren ihre Beziehungen erlebt haben. Vielmehr geht es mir auch in diesem Artikel wieder um das Thema Trauma und um die Folgen, die jedes einzelne Trauma auch gesamtgesellschaftlich betrachtet hat. Was passiert, wenn man eine bereits durch Kriege traumatisierte Gesellschaft noch zusätzlich jahrelang unter Druck setzt, so wie dies in den letzten fünf Jahren geschehen ist? Wieviel Trauma verträgt eine Gesellschaft? Wie verändern sich Beziehungen in einer Gesellschaft, die immer wieder erneut traumatisiert wird? Ist irgendwann das Maß des Erträglichen voll? Und wenn ja, wie äußert sich solch eine Kumulation von Traumafolgen?
Meines Erachtens sehen wir gerade genau die Ergebnisse solch einer Kumulation von Traumafolgen in unserer deutschen Gesellschaft, vielleicht sogar global: Menschen reden nicht mehr (vertieft) miteinander. Und dies ist nur eine von vielen Traumafolgen.
Ich freue mich über jeden Leser, der jetzt noch weiterliest.
Durch genügend Traumatisierung kann man Menschen offensichtlich zeitweise dazu bringen, dass sie nicht mehr (vertieft) miteinander reden, weil das Reden weh tut.
Traumatisierung ist daher eine effektive Strategie der vermeintlich Herrschenden, Menschen zu separieren.
Traumatisierung setzt tiefe Verletzungen und macht Menschen vorübergehend sprachlos. Es fehlen einem die Worte. Man möchte dann nicht reden. Aber man verschließt sich auch vor den Worten anderer, weil man keine weitere Verletzung mehr erträgt.
Menschen im Alltag erachten es vielleicht mittlerweile schon als normal, wenn Beziehungen nicht gut laufen, egal, um welche Art von Beziehung es sich handelt. Sobald Probleme auftauchen, wird erst kurz gestritten, dann geschwiegen und wenn man das Schweigen nicht mehr aushält, dann gibt es entweder noch einen Versuch oder man geht gleich auf Distanz und bricht den Kontakt ganz ab. Auch meine Zündschnur ist manchmal immer noch gefühlt zu kurz. Wenn man sich Distanz nicht erlauben kann, dann frisst man das Problem in sich hinein, spült es runter, kompensiert irgendwie, wartet darauf, dass sich von allein etwas ändert oder dass sich eine bessere Gelegenheit bietet, bei der man dann die Biege machen kann. Mehrere Eisen im Feuer zu haben, beruflich wie privat, gilt als clever. Probleme nicht anzusprechen, gilt als kompetent. Das Wort Teamfähigkeit ist im Berufsleben zu einem Kampfbegriff geworden. Wer im Arbeitskontext Probleme anspricht, ist offensichtlich nicht teamfähig. Die Frage „Sind Sie teamfähig?“, erzählt meines Erachtens mehr über den Chef als über den Mitarbeiter. Die passendere Frage wäre wohl „Können Sie sich wortlos an schlechte Zustände dauerhaft adaptieren?“ In privaten Beziehungen braucht man, wenn es nicht so gut läuft, einen stilvollen Urlaub oder eine neue Wohnzimmereinrichtung, um endlich mal wieder schöne Gefühle erleben zu können. Negative Gefühle sind scheinbar das Kind, das keiner haben wollte, weshalb es die schönsten Kleider bekommt. Auch ich kenne Ablenkung von negativen Gefühlen durch Konsum und Essen. Es lohnt sich, mal den Werbeslogans von Möbelhäusern, Ferienanbietern oder Lebensmittelhändlern bewusst zuzuhören. Die Werbung kennt unsere Sehnsüchte und damit auch unsere negativen Gefühle besser als wir selbst. Und für alle, die nicht konsumieren wollen, die nicht locker lassen und steif darauf beharren, dass es aber ein Problem in der Beziehung oder am Arbeitsplatz oder zumindest eine gewisse Unzufriedenheit gäbe, für diese Menschen gibt es garantiert ein passendes Coaching- oder Weiterbildungsprogramm mit Namen wie „In 12 Modulen zur Selbstentfaltung“, welches nur deshalb meist nicht funktioniert, weil man es angeblich nicht richtig durchgeführt hat oder vorab noch das Basismodul absolvieren muss. Bildung ist mittlerweile auch ein Markt, der Konsumgüter in Form von Coachings und Seminaren anbietet.
Auch ich bin übrigens lange zusammen gezuckt bei der Frage „Sind sie teamfähig?“ oder der Feststellung „Du bist das Problem, weil Du immer alles so genau nimmst, nicht die Fünf gerade sein lassen kannst.“ Am Ende ist man immer der Dumme, wenn man ein negatives Gefühl hat und darüber sprechen möchte. Trauma löst Scham UND Wut in einer Person aus. Scham zieht Abwertung an wie Licht die Motten anzieht. Und irgendwann platzt einem der Kragen. Man teilt selber aus. Und dann schämt man sich erneut, nicht nur für das früher oder später erlittene Trauma im Leben, sofern einem das bewusst ist, sondern auch für die unbeherrschte Reaktion, die man oft selbst nicht richtig versteht. Nicht bearbeitetes Trauma arbeitet unbewusst in uns.
Eine traumatisierte Gesellschaft wertet sich ständig gegenseitig ab und hält genau damit die Wunden offen.
Dann ist es vielleicht doch besser, das Problem in der Beziehung oder am Arbeitsplatz runter zu schlucken, auf Distanz zum anderen zu gehen, sich schon mal nach einer neuen Wohnzimmereinrichtung, einem neuen Partner oder einem neuen Job umzuschauen? Ich denke nicht, dass das eine Lösung ist.
Hinschauen und Gefühle bei sich und anderen zulassen, ist ein guter Anfang.
Wir gehen oft Beziehungen ein, gehen aber gleichzeitig einer echten tiefen und anhaltenden Verbindungen privat wie beruflich instinktiv aus dem Weg, weil echte tiefe Gespräche, zu denen es in solchen Verbindungen kommen kann, weh tun können, insbesondere wenn man noch unverarbeitetes Trauma mit sich herum schleppt. Und in einer traumatisierten Gesellschaft, tragen halt viele Menschen solche traumatisierten und nicht bearbeiteten Anteile mit sich herum.
Wir sind die Kinder und Kindeskinder der Menschen, die den zweiten Weltkrieg hautnah miterlebt haben. Alles, was die Eltern und Großeltern nicht besprochen, nicht verarbeitet haben, tragen wir weiter mit uns herum. Das ist den meisten Menschen, meines Erachtens, nicht bewusst. Mag sein, dass an dieser Stelle der eine oder andere widerspricht. Widersprechen Sie mir gerne. Meine Alltagserfahrung ist eine andere. Die Art, wie wir Beziehungen gestalten, spricht Bände. Aber, wenn man es nicht anders kennt und keine Kontrollgruppe hat, sagt man sich halt: „So isses. Und so isses normal. Ich kenne es nicht anders. Das machen doch alle so.“
Es ist so normal, in unserer Gesellschaft, nicht vertieft über negative (und auch positive) Gefühle zu reden. Alleine die Bezeichnung „negative Gefühle“ klingt schon wenig einladend. Und es ist auch so normal, Menschen in dem Moment, wo sie gegen jede Empfehlung nicht nur über negative Gefühle reden wollen, sondern diese sogar live und in Farbe zeigen, abzuwerten, oder noch schlimmer, zu ignorieren, weil man sich verunsichert fühlt, nicht weiß, wie man damit umgehen soll. Gefühle scheinen ansteckend zu sein. Da ist Vorsicht geboten. Ich persönlich kann mich an viele solcher Momente erinnern, wo Menschen nicht gern hören wollten, wovor ich Angst hatte, was und wer mich verletzt und wütend gemacht hatte, beruflich wie privat. Mit geäußerter Angst und Trauer macht man(n) sich ganz schnell lächerlich. Mit Wut hingegen wird ein Mann von anderen als stark bis beängstigend wahrgenommen. Ein Mann, der wütend agiert, wird eher als kraftvoll und temperamentvoll eingeschätzt. Eine Frau wird mit Wut dann akzeptiert, wenn sie bereits in einer (männlichen) Führungsrolle ist. „Sie“ muss schließlich ihren „Mann“ stehen. Hat sie keine Führungsrolle, wird sie abgewertet oder befördert. Dem wütenden Mann wird eher unterstellt, er habe schließlich einen wichtigen Auftrag zu erfüllen. Der Frau wird eher ein Mangel unterstellt, den ich hier nicht näher bezeichnen möchte. Darin spiegeln sich sehr starre Rollenvorstellungen von Mann und Frau in unserer Gesellschaft wider. Ängstliche Frauen, die bei einer Autopanne bezaubernd aussehen, erfüllen ein bestimmtes Klischee. Impulsive Männer mit Holzfällerhemd erfüllen zumindest auf einer Baustelle ein anderes Klischee. Menschen mit ausgeprägten negativen Gefühlen werden unter bestimmten Umständen glorifiziert. Der bezaubernd aussehenden Frau mit Autopanne wird schnell und gerne geholfen. Aber wenn die ängstliche Frau eine Vorgesetzte ist und der impulsive Mann mit Holzfällerhemd ein Kunde in einem Beratungsbüro ist, dann kann die Bewertung ganz anders ausfallen. Dann sind diese Gefühle vermeintlich fehlplatziert. Gefühle scheinen einen Platz zu haben. Die ängstliche Vorgesetzte hat eine Führungsschwäche und der impulsive Kunde im Beratungsbüro wird vom Sicherheitsdienst „entfernt“. Der Wunsch, über die gezeigten negativen Gefühle zu reden, wird einem mit Nachdruck verwehrt. Durch diesen vermeidenden Umgang mit negativen Gefühlen oder die Fehlinterpretation dieser Gefühle kommt es meines Erachtens oft zu bestimmten Rollenbesetzungen im Berufsleben. Eine positive Selektion von Mitarbeitern mit sehr rücksichtslosem oder überangepasstem Verhalten findet statt. In privaten Beziehungen werden negative Gefühle durch Ablenkung und Konsum vermieden. Es werden zu viele oder zu wenige Kontakte gepflegt. Beziehungen werden gar nicht mehr für die Ewigkeit antizipiert. Man hält sich alle Wege offen und lernt ständig neue Leute kennen. Oder man lebt Beziehung in sehr starren Strukturen, wo neue Informationen kaum Eingang finden, damit man sich nicht hinterfragen und mit anderen vergleichen muss. Lebensphasen mit dem weit geöffneten oder dem eher geschlossenen Muster wechseln sich auch manchmal ab. Individuelle Entwicklungen des einen oder anderen Musters in Lebensverläufen, zeichnen sich irgendwann als gesellschaftliche Strömung ab, wenn sie bei vielen Menschen gleichzeitig geschehen. Menschen wollen alles ausprobiert haben, bevor sie sich das Reihenhaus kaufen. Andere verkaufen ihr Reihenhaus nach der Scheidung, um im Wohnmobil durch die Welt zu tingeln. Man könnte denken, dass dies einfach individuelle Lebensverläufe sind, die sich zufällig so ergeben haben. Es gab Zeiten, wo Menschen zufällig viel Halt in starren Beziehungs- und Lebensstrukturen fanden. Gegenbewegungen brachen diese starren Strukturen nicht wirklich auf, weil sie Feuer mit Feuer bekämpften. Grundsätzlich gegen alles zu sein, was die Eltern vorgelebt haben, ist ja auch irgendwie rigide. Der Apfel fällt nicht zufällig neben den Stamm. Heute 80 Jahre nach Kriegsende können Menschen mit Begriffen wie Achtsamkeit und bewusster Kommunikation immer mehr anfangen, jedoch geht die weit verbreitete Bewusstheit und Selbstreflektiertheit oft zu Lasten einer wünschenswerten Verarbeitungstiefe. Zu oft werden wir gedacht, gefühlt und gelenkt. Um dies mit uns machen zu können, werden von vermeintlich Herrschenden wichtige Orientierungspunkte wie die eigene Geschichte, Kultur und Sprache falsch erzählt oder bis zur Unkenntlichkeit verändert. Und eigene Gefühle, die einem noch letzten Halt und Orientierung in diesem Dschungel bieten könnten, werden vom Kapitalismus ausdauernd gejagt wie ein seltenes Tier. Separierung und Orientierungslosigkeit ist gewollt.
Alles dreht sich um unsere tiefen Gefühle, insbesondere diese negativen Gefühle, die aus Trauma entstehen. Diese Gefühle wollen gesehen, gehört und bearbeitet werden. Sie machen zum Glück, solange es die Menschheit gibt, zuverlässig auf sich selbst aufmerksam. Sie sind in Wahrheit unsere Lebensversicherung. Die Zeit heilt gar nichts. Und hierfür braucht es wieder ein Bewusstsein, dass Gefühle wertvoll sind, auch solche, die aus Trauma entstehen. Ich persönlich habe dafür mehr als ein halbes Leben gebraucht, um dies zu verstehen. Als junge Frau habe ich nicht gewusst, dass viele meiner Gefühle, negativ wie positiv, Ausdruck meines Traumas waren. Heute weiß ich, dass ich mit dieser Einschätzung, die ich damals hatte, in „guter Gesellschaft“ war. Den meisten Menschen geht das so, bis sie irgendwann ihr eigenes Trauma erkennen.
Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft, und die Arten und Ausprägungen von Trauma sind so vielfältig und den meisten Menschen unbekannt wie die Namen der Blumen auf einer Sommerwiese.
Wenn man diesen Satz wirken lässt, dann stellt sich doch die Frage:
Wie sieht denn ein gesunder Umgang mit negativen (und positiven) Gefühlen aus?
Reicht es aus, wenn man die Namen aller Wiesenblumen auswendig lernt, damit man jedes Trauma genau bestimmen kann? Oder geht es mehr um das Fühlen und weniger um das Wissen?
Den gesunden Umgang mit meinen Gefühlen habe ich nicht durch Theorie und Bücher erlernt, sondern durch den Alltag, durch die (emotionalen) Reaktionen meiner Mitmenschen und durch das bewusste Spüren und Zulassen meiner eigenen Gefühle. In Stufen lernte ich meine Gefühle immer besser kennen und mit ihnen umzugehen. Je besser ich sie kannte, umso lieber waren sie mir. Und ich lerne sie immer noch weiter und besser kennen. Das ist ein Prozess.
Traumabearbeitung ist anfangs ein anstrengender Prozess. Man sollte das langsam angehen. Aber diese Arbeit ist sehr lohnenswert, weil sie einem viele glückliche Momente, Kraft und Lebensfreude schenkt. Reden wird dadurch leichter und bringt in allen Lebensbereichen Fortschritte. Manchmal tut Reden auch weh (siehe Titel), aber zeitgleich, und auch langfristig gesehen, wird das Leben schöner durch Traumabearbeitung. Es geht nicht um Schmerzvermeidung, sondern darum, mit dem Schmerz gut umgehen zu können. Denn dadurch wird er letztlich kleiner und verwandelt sich zur Wiesenblume. Es geht um Verwandlung durch Fühlen. Die Erfahrung, dass man Trauma bearbeiten kann, erzählt mir so viel über dieses Leben, wie stark es ist, wie sehr es uns liebt und welche Blüten daraus wachsen können. Viele schöne Dinge, die wir täglich sehen, sind aus bewältigtem Trauma oder dem Wunsch, Trauma zu bewältigen, entstanden.
Der Schmerz lehrt uns Demut vor dem Leben und kreiert nebenbei die schönsten Lieder und Kunstwerke. Trauer und Verlust betonen den Wert der Dinge. Ärger und Wut bringen uns in Wallungen und stellen die Energie bereit, die man manchmal braucht, um Berge zu versetzen. Ängste sind das Tor zum Glück. Schuld und Scham lehren uns Vergebung. Neid und Eifersucht lassen unseren Selbstwert wachsen, wenn wir uns ihnen stellen. Und Freude, Glück und Ekstase machen uns dankbar, großzügig und optimistisch.
Wenn wir diese Gefühle wieder zulassen, dann können wir gar nicht anders als reden. Wir reden dann wieder vertieft miteinander, weil es gut tut, weil es entlastet, weil es Nähe zu anderen vielleicht erstmalig aufbaut und dann zu einem dicken Band verstärkt bis ein großes stabiles Netz daraus entsteht, welches Menschen, die gerade Halt benötigen, diesen bieten kann.
Wir reden dann wieder miteinander, weil es gut tut.