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@ Michael Meyen
2025-02-09 10:07:01
„Ich freue mich, dass wir in Zeiten von Amazon Books on demand leben“, schreibt Ulf Poschardt im letzten Satz seines Vorvorworts. Wahrscheinlich hat er da schon geahnt, dass es ihn in den Charts der Woche, die der Digitalbuchladen neuerdings produziert, ganz weit nach oben spülen würde. Platz eins für „Shitbürgertum“ – für einen Generalangriff auf die Kollegen „im Kultur- und Medienbereich, in Kirchen und NGOs, im vorpolitischen Raum und in den Parteien“, die, so sieht das der Herausgeber von drei großen Axel-Springer-Marken, „Alltag und Leben der Anderen“ so fest im Griff haben wie eine „Disziplinarmacht im foucaultschen Sinne“ (S. 6). Das muss man erstmal sacken lassen. Poschardt, bis Ende 2024 Chefredakteur der *Welt*-Gruppe und dann im Konzern noch weiter nach oben gerutscht, schreibt ein „kleines Büchlein“, verliert dabei den Verlag und seufzt, dass er damit zwar „nicht ausgeschlossen“ sei aus dem „Diskursuniversum“, aber „doch an den Rand gedrängt“ (S. 7). Tränendrüse, Taschentuch und ein Trostpflaster von Jeff Bezos.
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Im Amazoniversum meinen es die Rezensenten gut mit Ulf Poschardt. Endlich sagt es mal einer. Hin und wieder wird der Stil beklagt (abgehoben, akademisch), aber das tut der Freude kaum Abbruch. Die Kettensäge hat es nun auch nach Deutschland geschafft. Poschardt feiert Javier Milei und Elon Musk als „Avantgarde des Westens“ (S. 12), sieht sich selbst zumindest rhetorisch als eine Art Wiedergänger von Donald Trump (S. 7) und sagt, dass Giorgia Meloni „mehr Antifa verkörpert als alle Moralapologeten hierzulande“ (S. 34). Damit ist der Ton gesetzt. Provokation. Es geht um die, die sich für die „Guten und Anständigen“ halten und dabei, darauf läuft Poschardts Analyse hinaus, den Blick in die eigenen Abgründe und die der deutschen Geschichte genauso verstellen wie die Konfrontation mit einem „schwachen Ich“ (S. 14). Wenn man so will: ein Stück Volkspsychologie, unterfüttert mit Heinrich Manns Untertan sowie mit den Lebenslügen von Walter Jens und Günter Grass („die intellektuellen Leuchttürme“ einer Gesellschaft, „für die die Denazifizierung eine Lüge“ war, S. 27) und milieugerecht garniert mit dem Verdacht, dass die Shitbürger den „Moralismus“ bräuchten, „um die ökonomischen Niederlagen ihrer Biographien mit einem ethischen Mehrwert zu versehen“ (S. 127).
Kann sein, klar. Ferndiagnosen sind schon im Einzelfall schwierig und erst recht bei größeren Gruppen, aber Ulf Poschardt kennt seine Pappenheimer. Er weiß, dass der öffentliche Dienst wächst, und sieht, wie eine Flut an Steuergeldern aus Kulturszene und Unis „Super-Agenten der Unfreiheit“ gemacht hat (S. 65). Garniert wird das mit Darwin (die Mutigen sind schon vor langer Zeit nach Amerika geflohen und haben so „die genetische Disposition zum Wettbewerb und zur Eigenverantwortung“ geschwächt, S. 106) und dem typischen West-Wehklagen über das Ende der Bonner Republik. Diese Merkel, nun ja. Für einen Friedrich-Kittler-Schüler bleibt das auch dann ziemlich dünn, wenn ein Schuss Generationsmythos in den Analyse-Cocktail kommt (Stichwort: der Hedonismus der Boomer) und der schon angedeutete „Postmaterialismus der Nichtrichtigwohlhabenden“ (S. 126).
Wer Friedrich Kittler nicht kennt, den Doktorvater von Ulf Poschardt: Bei diesem Medientheoretiker beginnt alles mit der Technik. Erst die „Aufschreibesysteme“, dann wir in all unseren Irrungen und Verwirrungen. Kittler würde sagen: ohne die Digitalplattformen kein Shitbürgertum. Wenn die Kommunikationskanäle Moral verlangen und klare Kante, dann bekommen wir Moral und Spaltung. Weiß man eigentlich auch bei Axel Springer. Dort sollte man auch all das kennen, was seit den 1990ern mit Schulen und Universitäten gemacht wurde, keineswegs nur in Deutschland. Pisa, Bologna. Der Druck in Richtung Hochschule, der die Handwerksberufe ausdünnt und das akademische Niveau auch dann gesenkt hätte, wenn es nicht den Zwang geben würde, alle Veranstaltungen zu benoten und sich folglich irgendwelche Prüfungen auszudenken, die jedes Ausscheren aus der Spur bestrafen. Und damit habe ich noch kein Wort gesagt über die [Suppenküche](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/die-macht-der-ideen), aus der vieles von dem kommt, was Ulf Poschardt anprangert – „der neue, autoritäre Glaube an die Sprache“ zum Beispiel, der zu Angst und Säuberungen führt (S. 119), oder die „Trias der Unterdrückung und Umerziehung aus Migrations-, Klima- und Corona-Politik“ (S. 151).
Genug vom „Shitbürgertum“. Eigentlich wollte ich heute über Axel Klopprogge schreiben, einen Manager im Unruhestand, der wie Ulf Poschardt von links kommt und sich ebenfalls an den vielen kleinen Diskurspolizisten reibt, aber weder seinen Marx vergessen hat noch die Menschen, um die es eigentlich geht. „Links oder rechts oder was?“ heißt Klopprogges neues Buch, schon sein drittes jenseits der alten Verlagswelt und vielleicht auch deshalb ästhetisch deutlich ansprechender als das von Poschardt. Aber das nur nebenbei. Axel Klopprogge kommt aus einem SPD-Milieu in Mönchengladbach, hat als Schüler den Sticker „Willy wählen“ getragen und sich das Studium als Briefträger verdient. Eine andere Welt. Er erzählt darüber in dem langen Gespräch, das wir über seine Bücher geführt haben. Schnaps und Trinkgeld für den Jungen von der Post. Die Gendersprache, sagt er, ist auch ein Verrat an all den Menschen, die sich ihm damals anvertraut haben und mit denen er heute diskutiert, wenn er zu Fuß oder mit dem Rad Land und Leute erkundet.
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In Klopprogges Texten geht es auch um das „Shitbürgertum“, das bei ihm allerdings Priester- oder Pharisäerschicht heißt – eine Bewegung, die nichts besser kann, aber alles besser weiß und hier zwar auch über ein Schuldkonstrukt gesteuert wird, aber ganz anders als bei Ulf Poschardt, für den die deutsche Geschichte auf den Nationalsozialismus hinausläuft, das Davor genauso wie das Danach. Axel Klopprogge sagt: Die Moralisierung funktioniert nur, weil sie sich auf Anliegen bezieht, die längst Allgemeingut sind. Wo sind die, die ernsthaft gegen die Gleichheit der Geschlechter sind, gegen sexuelle Vielfalt oder gegen Umweltschutz? Der Zeigefinger – Nazi! Sexist! Rassist! Antisemit! Rechtsextremist! – kann seine Wucht nur entfalten, weil niemand in einer dieser Ecken stehen will. Folge 1: Es passiert nie genug. Folge 2: ein Generalverdacht. Wir bekommen weder das mit der Nachtabsenkung alleine hin noch das Händewaschen nach dem Toilettengang. Und Folge 3: Missionare, die sich in Verwaltungen, Redaktionen und Unternehmen eingenistet haben und über Verordnungen und Bewertungssysteme zum einen dafür sorgen, dass alle anderen permanent auf Trab gehalten werden, und sich zum anderen selbst die Jobs sichern.
Wobei: So doll ist das meist alles gar nicht. „Eine biedere urbane Mittelschicht mit dürftiger Bildung“ und „mit risikolosen administrativen Tätigkeiten im öffentlichen Sektor“ (S. 87), oft befristet, längst nicht immer Vollzeit und gefangen in einer Endloskette aus Misstrauen und Kontrolle. Axel Klopprogge glaubt an den [Menschen](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/89) und an unsere Fähigkeit, etwas zu schaffen, was es so noch nirgendwo gab. Das Paradies, sagt er in unserem [Gespräch](https://youtu.be/LUiUAhb2OXY), muss ein schrecklicher Ort gewesen sein. Alles perfekt und nichts mehr zu tun. Der Mensch ist von dort nicht vertrieben worden, sondern geflohen. Klopprogge wehrt sich ganz folgerichtig gegen ein betreutes Leben, in dem schon die Sprache die Spielräume einschränkt und der Rest über Multiple-Choice-Klausuren und Verbotsschilder geregelt wird.
„Links oder rechts oder was?“: Bei Ulf Poschardt scheint die Antwort klar. Keine Zugeständnisse mehr an das „kulturell dominante Links-/Grün-Bürgertum“ (S. 7). „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, steht hinten auf dem Buch. „Zu weit rechts abgebogen“, fragt *Der Spiegel* eher rhetorisch in einem langen [Porträt](https://archive.ph/ukpS0), bei dem schon das Titelfoto alles sagt. Tiefergelegt in einer Tiefgarage, aber bitte nicht ohne Sonnenbrille. Axel Klopprogge dagegen mag nicht lassen von seiner Herkunft. Er hat als Linker Karriere gemacht in der Welt der Konzerne und dort die Ambivalenz des Handelns kennen- und schätzengelernt. Verantwortung übernehmen in dem Wissen, dass sich längst nicht alles kontrollieren lässt. Die Pionierrolle von Unternehmern. Arbeit, die an einen Ort und an eine Zeit gebunden ist, auf die Widrigkeiten der Materie trifft und tatsächlich etwas bewirkt in der Welt. Seine Texte leben von Beobachtungen des Alltags und werden getragen vom Respekt vor denen, die das Land am Laufen halten. Klopprogge will nicht zerstören, sondern die Linke ermuntern, zu ihren Wurzeln zurückzugehen und dabei Arbeit und Freiheit zu vermählen. Selbst das Shitbürgertum mag er nicht verdammen. Gute Absichten, immerhin, auch wenn sie gerade in eine Dystopie zu führen scheinen. Wo Ulf Poschardt an die Kettensäge glaubt, sagt Axel Klopprogge ganz schlicht: Der Mensch ist nicht berechenbar ist und kann schon morgen alles über den Haufen werfen, was er bis heute tut.
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