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@ Michael Meyen
2025-02-06 11:30:19
Nachdem ich in diesem Jahr schon die [Schweiz](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/die-afd-spricht-englisch) gewürdigt habe und den renitenten [Osten](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/resonanz-aus-dem-osten), wird es Zeit, nach Österreich zu schauen. Wien, Hannes Hofbauer, Promedia. Für mich eine Dreifaltigkeit, seit ich im September 2021 bei der [Zukunftskonferenz](https://www.manova.news/artikel/weil-es-anders-geht) war. Auf den Straßen der Stadt lief mein altes Leben davon. Der Wien-Marathon, geplant eigentlich für April 2020 und für mich seinerzeit ein Fixpunkt im Kalender, weil ich glaubte, besser in Form zu sein als je zuvor. Den Startplatz hatte ich unter Protest zurückgegeben, nachdem die Organisatoren per Rundmail dazu aufriefen, sich doch bitte die Spritze zu holen. Die Zeit reiche sogar noch für zwei. Mitten im Training wohlgemerkt, wenn das Immunsystem ohnehin permanent im Keller ist und nicht mal eine Rotznase in der Nähe verkraftet. Für Rekorde war es an jenem Septembersonntag dann ohnehin viel zu heiß.
Also zur Zukunftskonferenz, die es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Jedenfalls für mich nicht. Kein Zertifikat, nirgends. Von jenseits der Grenze schien Wien damals eine uneinnehmbare Festung zu sein für alle, die ohne Maske einreiten wollen. Die Impfpflicht war zwar noch nicht beschlossen, aber die veröffentlichte Stimmung ließ kaum Zweifel, dass das kommen würde. In Wien, das habe ich damals gelernt, geht trotzdem immer was. Kein Hotel ohne Test? Dann wohnst Du eben privat, lieber Michael. Und wenn wir Hunger haben, finden wir immer einen Griechen oder jemanden vom Balkan.
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Wien spielt auch im neuen Buch von Hannes Hofbauer eine Rolle. Eine kleine, okay, und beim Blick auf Cover und Titel auch nicht unbedingt zu erwarten. Russland heute, sagen alle optischen Signale. Wirtschaftskrieg, Sanktionen, ein neues Schloss aus Eisen. Hofbauer wäre aber nicht Hofbauer, wenn er es bei den letzten paar Jahren belassen würde. Wie schon in seinem Buch über [Zensur](https://medienblog.hypotheses.org/10635) taucht er in die Geschichte ein und kommt so über die Hanse und Maria Theresia, über den unseligen Gutsverwalter Charles Boykott und Woodrow Wilson zwangsläufig auch zur Embargopolitik des Westens im Kalten Krieg. COCOM. Eine dieser Abkürzungen, die auch ausgeschrieben nicht verraten, was wirklich dahintersteckt. „Koordinationsausschuss für Ost-West-Handel“, sagt Wikipedia. Der Zeitzeuge Michael Meyen erinnert sich an eine DDR-Jugend, in der er sehnsüchtig auf das Weihnachtspaket aus dem Westen wartete. Vielleicht gibt es ja diesmal Taschenrechner, Quarzuhr oder irgendetwas anderes von dem, was sonst nur im Intershop liegt. Wien, sagt Hannes Hofbauer, war ein „Hotspot“ des Ost-Schmuggels. Einer der Orte, über die das gehandelt wurde, was nicht auf den schwarzen COCOM-Listen stand und so eigentlich auch nicht in mein Kinderzimmer kommen konnte. Die Quellen dieses Hotspots: Familienbande, Tradition und eine Position zwischen den großen Mächten.
Vermutlich ist es deshalb kein Zufall, dass ein Buch wie dieses aus Österreich kommt. Hannes Hofbauer muss nicht groß herausstreichen, dass er sich auskennt im Osten Europas. Seine Bücher sprechen so für sich, dass ein paar zarte Hinweise genügen. Frühjahr 1990, kurz nach der Eröffnung von McDonalds am Puschkin-Platz in Moskau. Eine lange Schlange, erinnert sich Hofbauer. „Den Geschmack des Westens“ probieren (S. 214). Heute sind die 825 Standorte verkauft. Der neue Betreiber hatte vorher Erfolg in Sibirien und sagt jetzt auf Russisch: „Wkusno i totschka“. Lecker und Punkt.
Damit ist ein Teil der Geschichte schon erzählt. Die Russen haben reagiert und den „härtesten Wirtschaftskrieg, den der Westen seit 1945 führt“, ins Leere laufen lassen (S. 203). BRICS und der Trend weg vom Dollar, die Umstellung der Landwirtschaft, die Weizen-Rekordernte 2024 und die Obst-Importe aus der Türkei. „Das westliche Sanktionsregime hat die Welt verändert“, sagt Hannes Hofbauer – aber anders als gedacht (S. 221). Damit sind nicht nur die Verluste gemeint, für die hier McDonalds steht, oder der Push für die russische Wirtschaft, sondern auch der „schleichende Wandel von der russländischen zur russisch-nationalen Identität“. *Russki mir* heißt das Schlagwort, das auf Zusammenhalt zielt. Russische Welt, Rechtsruck und Kirchenmacht inklusive (S. 238).
Zu Hofbauers Geschichte gehören aber auch, wie sollte es bei einem Historiker anders sein, die langen Linien, die Scharmützel mit dem Irak und Libyen, die die „Dollar-Zwangsjacke“ abstreifen wollten (S. 65), und der Rechtsbruch, der stets damit verbunden ist, irgendwelche „Bestimmungen“ gegen Länder durchzusetzen, die jemand mit Allmachtsphantasien gerade als „Bösewicht und Unruhestifter“ ausgemacht hat (S. 14). „Schießkrieg und Wirtschaftskrieg hängen eng zusammen“ (S. 17): Diese Formel hat Woodrow Wilson, seinerzeit US-Präsident, schon im September 1919 in das kollektive Weltgedächtnis geschrieben. Möge der Krieg auch barbarisch sein, so sei doch der Boykott „ein unendlich viel schrecklicheres Kriegsinstrument“ (S. 9). Das erklärt COCOM. Das erklärt „Amerikas Kampf gegen russische Energie für Europa“, den Hannes Hofbauer schon 1960 beginnen lässt (S. 53). Das erklärt auch das Kontaktschuld-Prinzip, das ich im Dezember 2019 live auf Kuba erleben durfte. Dunkle Städte beim Anflug, Warten an den Tankstellen und der Zweifel, ob es etwas werden würde mit einer Vortragstour so ganz ohne Benzin. Dann endlich ein Schiff am Horizont. Wer in Havanna anlegt, so habe ich gelernt, ist für US-Häfen tabu. Die Kubaner sind damals nicht verhungert, immerhin. Aber gut ging es ihnen trotzdem nicht.
„Russland ruinieren“: Bei Hannes Hofbauer beginnt dieses Kapitel 2009 – mit dem Versuch, über die Idee „Östliche Partnerschaft“ sechs Staaten aus dem Dunstkreis Moskaus zu lösen (S. 81). Moldawien, Georgien, Armenien, die Ukraine, Belarus, Aserbaidschan. Wir wissen, wie das ausgegangen ist. Wir wissen auch, wie und warum die Spirale weitergedreht wurde. Geopolitischer Wahn, der Kampf um kulturelle Deutungshoheit, wunderbar nachzulesen im Promedia-Buch von [Hauke Ritz](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/die-macht-der-ideen), dazu der „Kampf um das große Geschäft“ (S. 104) und natürlich um das große Geld, der hier und jetzt selbst russische Auslandsvermögen nicht zu verschonen scheint, obwohl doch Eigentum ein Fetisch ist, der nicht einmal Straftätern entzogen werden kann (S. 133).
Hannes Hofbauer verlässt den Hochsitz des Chronisten hin und wieder, um auf Menschen zu schauen, die zu Kollateralschäden geworden sind. Jozef Hambálek, ein slowakischer Motorradfahrer, der seinen Ministerpräsidenten brauchte, um von der Sanktionsliste gestrichen zu werden. So-yoen Schröder-Kim, fristlos entlassen, weil sie am 9. Mai 2023 mit ihrem Mann, Ex-Bundeskanzler, in der russischen Botschaft war. Justus Frantz, einst Klassikstar und heute Persona non grata, weil er nicht von alten Freunden und großer Kunst lassen wollte. Hofbauer spricht von einem „Russland-Hass“, der bei den Volksvertretern der EU „paranoide Züge“ trage, und von einer „kolonialen Attitüde moralischer Überlegenheit“ (S. 127). Er zeigt die Folgen jenseits der Wirtschaft. Kultur, Olympia, Wissenschaft, private Reisen. Die Zensur natürlich – nötig allein schon deshalb, damit die „russische Erzählung“ unsichtbar wird (S. 160). Und er hat eine Anekdote, die exemplarisch zeigt, warum das alles so gekommen ist. Ort: Das *Heute-Journal* im ZDF 2014. Anwesende: Claus Kleber und Joe Kaeser, seinerzeit Siemens-Chef und gerade zufrieden zurück aus Russland, wo er Putin getroffen hatte und den Gazprom-Chef. Der Leser ahnt, was kommt. Ein Verhör. Was haben Sie sich dabei gedacht, Herr Kaeser? Hannes Hofbauer sagt, dass dem Wirtschaftsboss erst in diesem Moment klar geworden sei, worauf die deutsche Politik hinauslief, und er zu Kreuze gekrochen sei (S. 235). Der Rest ist Geschichte – für alle Zeiten festgehalten in diesem Buch.
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