-
@ Michael Meyen
2025-04-26 10:21:11„Huch, das ist ja heute schon wieder vier Jahre her“, hat Dietrich Brüggemann am Dienstag auf X gestöhnt. Und: „Ich für meinen Teil würde es wieder tun.“ Knapp 1400 Herzchen und gut 300 Retweets. Immerhin, einerseits. Andererseits scheint die Aktion #allesdichtmachen verschwunden zu sein aus dem kollektiven Gedächtnis. Es gibt eine Seite auf Rumble, die alle 52 Videos dokumentiert. Zwölf Follower und ein paar Klicks. 66 zum Beispiel für die großartige Kathrin Osterode und ihre Idee, die Inzidenzen in das Familienleben zu tragen und im Fall der Fälle auch die Kinder wegzugeben.
Vielleicht sind es auch schon ein paar mehr, wenn Sie jetzt klicken sollten, um jenen späten April-Abend von 2021 zurückzuholen und das Glück, das zum Greifen nah schien. Ich sehe mich noch auf der Couch sitzen, bereit für das Bett, als der Link kam. Ich konnte nicht mehr aufhören. Prominente, endlich. Und auch noch so viele und so gut. Was daraus geworden ist, habe ich genau ein Jahr später mit Freunden und Kollegen in ein Buch gepackt – noch so ein Versuch, ein Ereignis für die Ewigkeit festzuhalten, das die Öffentlichkeit verändert hat und damit das Land, ein Versuch, der genauso in einer Nische versandet ist wie die Rumble-Seite.
Ich fürchte: Auch beim fünften Geburtstag wird sich niemand an #allesdichtmachen erinnern wollen, abgesehen natürlich von Dietrich Brüggemann und ein paar Ewiggestrigen wie mir. Eigentlich lieben Medien Jahrestage, besonders die runden. Weißt Du noch? Heute vor zehn Jahren? In jedem von uns wohnt ein Nostalgiker, der zurückblicken will, Bilanz ziehen möchte, Ankerpunkte sucht im Strom der Zeit. Die Redaktionen wissen das. Sie sehen es mittlerweile auch, weil sie alles erfassen lassen, was wir mit ihren Beiträgen tun. Die blinkenden Bildschirme in den Meinungsfabriken sagen: Jahrestage gehen immer.
Meine These: #allesdichtmachen bricht diese Regel, obwohl die Aktion alles mitbringt, wonach der Journalismus sucht. Prominenz, Konflikt und Drama mit allem Drum und Dran. Leidenschaft, Tränen und – ja, auch eine historische Dimension. Falls unsere Enkel noch Kulturgeschichten schreiben dürfen, werden sie Brüggemann & Co. nicht aussparen können. Wo gibt es das schon – eine Kunstaktion, die das Land verändert? Nach diesen fünf Tagen im April 2021 wussten alle, wie die Kräfte im Land verteilt sind. Das Wort Diskussionskultur wurde aus dem Duden gestrichen. Und jeder Überlebende der Anti-Axel-Springer-Demos konnte sehen, dass alle Träume der Achtundsechziger wahr geworden sind. Die Bildzeitung hat nichts mehr zu sagen. Etwas akademischer gesprochen: Die Definitionsmachtverhältnisse haben sich geändert – weg von dem Blatt mit den großen Buchstaben und damit von Milieus ohne akademische Abschlüsse oder Bürojobs, hin zu den Leitmedien der Menschen, die in irgendeiner Weise vom Staat abhängen und deshalb Zeit haben, sich eine Wirklichkeit zurechtzutwittern.
Der Reihe nach. 22. April 2021, ein Donnerstag. 15 Minuten vor Mitternacht erscheint #allesdichtmachen in der Onlineausgabe der Bildzeitung. O-Ton: „Mit Ironie, Witz und Sarkasmus hinterfragen Deutschlands bekannteste Schauspielerinnen und Schauspieler die Corona-Politik der Bundesregierung und kritisieren die hiesige Diskussionskultur.“
Die 53 Videos sind da erst ein paar Stunden online, aber zumindest auf der „Haupt-Website der Aktion“ schon nicht mehr abrufbar. „Offenbar gehacked“, schreibt die Bildzeitung und wirbt für YouTube. Außerdem gibt es positive Reaktionen (etwa vom Virologen Jonas Schmidt-Chanasit, der von einem „Meisterwerk“ gesprochen habe) sowie einen Ausblick auf das, was die Leitmedien dann dominieren wird: „Manche User auf Twitter und Facebook versuchen, die Aktion in die Coronaleugner-Ecke zu rücken. Dabei leugnet keiner der Schauspielerinnen und Schauspieler auch nur ansatzweise die Existenz des Coronavirus.“
Heute wissen wir: Bild setzte hier zwar ein Thema, aber nicht den Ton. Anders gesagt: Was am Donnerstagabend noch zu gelten scheint, ist am Freitag nicht mehr wahr. „Wenn man seinen eigenen Shitstorm verschlafen hat“, twittert Manuel Rubey am nächsten Morgen, ein Schauspieler aus Österreich, der in seinem Video fordert, „die Theater, die Museen, die Kinos, die Kabarettbühnen überhaupt nie wieder aufzusperren“. Eine Woche später erklärt Rubey im Wiener Standard seinen Tweet. Gleich nach der Veröffentlichung habe er vor dem Schlafengehen „noch ein bisschen Kommentare gelesen“ und „das Gefühl“ gehabt, „dass es verstanden wird, wie es gemeint war“. Der Tag danach: „ein kafkaesker Albtraum. Kollegen entschuldigten sich privat, dass sie ihre positiven Kommentare nun doch gelöscht hätten.“
An der Bildzeitung hat das nicht gelegen. Die Redaktion blieb bei ihrer Linie und bot Dietrich Brüggemann an Tag fünf (Montag) eine Video-Bühne für eine Art Schlusswort zur Debatte (Länge: über zwölf Minuten), ohne den Regisseur zu denunzieren. Vorher finden sich hier Stimmen, die sonst nirgendwo zu hören waren – etwa Peter-Michael Diestel, letzter DDR-Innenminister, der die „Diskussionskultur beschädigt“ sieht, oder eine PR-Agentin, die ihren „Klienten abgeraten“ hat, „sich in den Sturm zu stellen“.
Geschossen wurde aus allen Rohren – auf Twitter und in den anderen Leitmedien. Tenor: Die Kritik ist ungerechtfertigt und schädlich. Den Beteiligten wurde vorgeworfen, „zynisch“ und „hämisch“ zu sein, die Gesellschaft zu spalten, ohne etwas „Konstruktives“ beizutragen, und nur an sich selbst und „ihre eigene Lage“ zu denken. Dabei wurden Vorurteile gegen Kunst und Künstler aktiviert und Rufmorde inszeniert. „Für mich ist das Kunst aus dem Elfenbeinturm der Privilegierten, ein elitäres Gewimmer“, sagte die Schauspielerin Pegah Ferydoni der Süddeutschen Zeitung. Michael Hanfeld bescheinigte den Schauspielprofis in der FAZ, ihre Texte „peinlich aufgesagt“ zu haben. In der Zeit fiel das Wort „grauenhaft“, und eine Spiegel– Videokolumne sprach sogar von „Waschmittelwerbung“.
In der Bildzeitung ließen Überschriften und Kommentare dagegen keinen Zweifel, wo die Sympathien der Redaktion liegen. „Filmakademie-Präsident geht auf Kollegen los“ steht über der Meldung, dass Ulrich Matthes die Aktion kritisiert hat. Dachzeile: „‚Zynisch‘, ‚komplett naiv und ballaballa‘“. Auf dem Foto wirkt Matthes arrogant und abgehoben – wie ein Köter, der um sich beißt. „Ich bin ein #allesdichtmachen-Fan“, schreibt Bild-Urgestein Franz-Josef Wagner am 25. April über seine Kolumne.
Mehr als zwei Dutzend Artikel über dieses lange Wochenende, die meisten davon Pro. Ralf Schuler, damals dort noch Leiter der Parlamentsredaktion und in jeder Hinsicht ein Schwergewicht, äußert sich gleich zweimal. „Großes Kino!“ sagt er am 23. April. Am nächsten Tag versteht Schuler sein Land nicht mehr: „53 Top-Künstler greifen in Videos die Corona-Stimmung im Lande auf: Kontakt- und Ausgangssperre, Alarmismus, Denunziantentum, wirtschaftliche Not und Ohnmachtsgefühle. Die Antwort: Hass, Shitstorm und ein SPD-Politiker denkt sogar öffentlich über Berufsverbote für die beteiligten Schauspieler nach. Binnen Stunden ziehen die ersten verschreckt ihre Videos zurück, andere distanzieren sich, müssen öffentlich Rechtfertigungen abgeben. Geht’s noch?“ Weiter bei Schuler: „Es ist Aufgabe von Kunst und Satire, dahin zu zielen, wo es wehtut, Stimmungen aufzugreifen und aufzubrechen, Machtworte zu ignorieren und dem Virus nicht das letzte Wort zu lassen. Auch, wenn ein Teil des Zuspruchs von schriller, schräger oder politisch unappetitlicher Seite kommt. Das überhaupt erwähnen zu müssen, beschreibt bereits das Problem: eine Politik, die ihr Tun für alternativlos, ultimativ und einzig wahr hält und Kritiker in den Verdacht stellt, Tod über Deutschland bringen zu wollen.“
Immerhin: Der Lack war endgültig ab von dieser Demokratie. Die Aktion #allesdichtmachen war ein Lehrstück. Rally around the flag, wann immer es die da oben befehlen. Lasst uns in den Kampf ziehen. Gestern gegen ein Virus, heute gegen die Russen und morgen gegen die ganze Welt – oder wenigstens gegen alle, die Fragen stellen, Zweifel haben, nicht laut Hurra rufen. Innerer Frieden? Ab auf den Müllhaufen der Geschichte. Wir sollten diesen Jahrestag feiern, immer wieder.
Bildquellen: Screenshots von Daria Gordeeva. Titel: Dietrich Brüggemann, Text: Kathrin Osterode