
@ Michael Meyen
2025-04-06 10:04:42
Ich kenne das Argument, mit dem man diesen Text zertrümmern kann. Anekdotische Evidenz. Was soll das mit den Einzelfällen, lieber Michael? Überlass doch das Geschichtenerzählen Künstlern oder Märchenonkels und konzentriere dich auf das, was sich beweisen lässt – über repräsentative Befragungen, die entsprechenden Auswertungsverfahren oder, noch besser, in Experimenten.
Ich schreibe diesen Text trotzdem. Eine Sozialwissenschaft, die an hieb- und stichfeste Beweise glaubt und sich deshalb auf das beschränkt, was sich erfragen und messen lässt, am besten in großen Bevölkerungsgruppen, eine solche Wissenschaft verliert das Leben aus dem Blick und die Deutungshoheit am Ende tatsächlich an die Romanciers. Bei den Historikern scheint das schon der Fall zu sein, wenn man Christoph Hein glaubt, Jahrgang 1944, der sein Lebensthema DDR gerade noch einmal ganz neu angefasst hat:
> Ich glaube, es gibt da noch Widerstand gegen meine Beschreibung. Aber ich meine ohnehin, dass nicht die Historiker für die Geschichtsschreibung zuständig sind, sondern seit 2000 Jahren, seit Homer bis zu Tolstoi und Dostojewski, allein die Romanciers. Die Historiker liefern uns hilfreiche Mittel, Anregungen, aber viel mehr nicht. Denn sie sind nur für die Hinterlassenschaften zuständig. Und die stimmen nicht immer mit der Geschichte überein. Sehr viele politisch wichtige Leute haben schon immer versucht, die Geschichtsschreibung in ihrem Sinne zu verändern. (Berliner Zeitung, 23. März 2025)
Mein Thema für den Tresen heute: die revolutionäre Wucht des Quereinsteigers. Ich könnte auch Aufsteiger sagen oder weiter im Synonymwörterbuch blättern, um einen besseren Begriff zu finden für Menschen, die gegen jede Wahrscheinlichkeit und jenseits der üblichen Wege in einem Berufsfeld gelandet und dort genau deshalb dazu berufen sind, alles auf den Prüfstand und dann oft auch auf den Kopf zu stellen. Wenn man sie denn lassen würde. Dazu gleich mehr.
Vorher will ich an den Forschungsverbund „Fit for Change“ erinnern – vom Freistaat Bayern in den frühen 2010er Jahren ins Leben gerufen, um der Resilienz von sozialen Systemen nachzuspüren. Im Rückblick wirkt diese Idee fast prophetisch. Wie können sich Schulen und Universitäten, Redaktionen, Gerichte und Behörden auf Gefahren vorbereiten, die noch nicht einmal am Horizont zu erkennen sind? Wie stellen wir sicher, dass diese Systeme auch in einem Ernstfall funktionieren, den noch niemand erlebt hat? Ich habe diesen Verbund als Sprecher geleitet und erinnere mich an eines unserer wichtigsten Ergebnisse: Wir brauchen Querdenker. Vielleicht hieß das im Ergebnisbericht auch anders. Egal. Wichtig ist, dass Einrichtungen leichter zusammenbrechen, wenn alle in die gleiche Richtung denken. Gleiche Herkunft + gleiche Ausbildung + gleicher Erfahrungsschatz = gleiche Ideen im Fall einer Krise. Die Handlungsempfehlung an alle Entscheider, wichtig für steuerfinanzierte Forschung, lag nahe: Stellt Leute ein, die im Moment scheinbar überflüssig sind und vielleicht sogar stören. Sie werden euch helfen, wenn es hart auf hart kommt, weil sie anders denken und deshalb eine andere Lösung sehen.
Ich habe gerade [Rolf Kron](https://youtu.be/ZDXQso8MfYM) interviewt, einen Stahlbauschlosser aus dem Ruhrgebiet, der nach Jahren auf Montage über den zweiten Bildungsweg zum Abitur kam und im Abendgymnasium so gute Noten hatte, dass er sich aussuchen konnte, wo und was er studieren will. Physik und Mathematik, dachte er, aber dann brachte ihn eine alte Dame zum Nachdenken. Diese Frau lag in dem Heim, in dem der junge Rolf putzen musste, und sagte zu ihm: Du tust mir gut. Viel besser als all die Menschen in den weißen Kitteln. Versprich mir, dass du einen Heilberuf lernst. In den ersten Vorlesungen in München fiel Rolf Kron, man spürt das noch in unserem Gespräch, aus allen Wolken. Was tun diese Ärzte, woran glauben ihre Professoren und woher nehmen alle zusammen ihre Arroganz? Kron ist Homöopath geworden, Spezialist für Impfschäden und, so sagt er das selbst, ein Heiler von Weltruf. Im Frühjahr 2020 war er sofort Zielscheibe für [Correctiv](https://correctiv.org/faktencheck/2020/04/08/nein-covid-19-ist-anders-als-von-rolf-kron-behauptet-nicht-nur-ein-harmloser-schnupfen/) und ist anschließend systematisch zerstört worden.

Vielleicht war es Zufall, dass ich vorher [Michael Beleites](https://youtu.be/qh4m2Jtq74k) vor der Kamera hatte, einen Biologen, der das Fach nie studiert hat, aber die akademische Zunft auf ganz ähnliche Weise herausfordert wie Rolf Kron – mit einem [Buch so schwer wie ein Ziegelstein](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/resonanz-aus-dem-osten), das nicht nur Darwin in Bausch und Bogen verwirft, sondern auch alles, was aus dem Kampf ums Dasein für unser Zusammenleben folgt. Die Biologie? Nun ja. Sie hat die Verbannung dieses Herausforderers anderen überlassen. Soll sich doch die Antifa die Hände schmutzig machen.
Kein Zufall ist, dass Erstakademiker den Löwenanteil der Fälle stellen, die Heike Egner und Anke Uhlenwinkel für ihr Buch [Wer stört, muss weg](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/wer-stort-muss-weg) ausgewertet haben. Der Vogelblick auf 60 Biografien zeigt, dass die „Entfernung kritischer Professoren“ vor allem Aufsteiger trifft – Menschen (hier kann ich mich selbst zitieren), „die an das humboldtsche Universitätsideal geglaubt und es aus eigener Kraft auf eine Lehrkanzel geschafft haben, ohne die Protektion eines Milieus, das ganz selbstverständlich immer wieder Minister und Richter, CEOs und eben auch Professoren hervorbringt und dabei ganz nebenbei auch all die kleinen Kniffe, Formeln, Regeln vererbt, die jeder kennen muss, der wirklich dazugehören und so auch dabeibleiben möchte.“
Ganz anders hat @LeiseBumm diesen Gedanken in einem YouTube-Kommentar zum Kron-Gespräch formuliert (von mir leicht redigiert):
> Vielleicht ist der Schlüssel zum Widerstand eine Kombi aus Empathiefähigkeit (bemerken, wenn Mitmenschen übel mitgespielt wird) und einer gewissen Übung in Randständigkeit und Diskriminierung. Wer schon als Kind „dazugehört“ hat oder „Rudelführer“ war, findet Hierarchien auch später „normal“. Emphatische Menschen haben ja „damals“ oft spontan (!) jemanden versteckt, bevor noch ihr Hirn oder Angstzentrum „ein G‘schichtl drucken“ konnte.
Da sind sie – die Querdenker, die der Forschungsverbund „Fit for Change“ las Schlüssel für das Überleben sozialer Systeme ausgemacht hat. Ich denke an [Ostdeutsche](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/57), die 1989 alt genug waren, um zu spüren, dass sie im neuen Rudel niemals dazugehören werden. Ich denke an [Marcus Klöckner](https://medienblog.hypotheses.org/6685), der wie Rolf Kron aus einfachsten Verhältnissen kommt und genau deshalb erst als Soziologe die Fragen stellen konnte, denen die Kollegen ausgewichen sind (etwa nach den Bilderbergern), um dann als Journalist seiner Zunft den [Spiegel vorzuhalten](https://medienblog.hypotheses.org/9979). Ich denke an [Bernd Fleischmann](https://apolut.net/im-gespraech-bernd-fleischmann/), einen promovierten Hochfrequenztechniker, der vor Jahren das Klima als Hobby entdeckte und heute [dokumentiert](https://www.klima-wahrheiten.de/), welche Kröten man schlucken muss, um das „CO2-Märchen“ glauben zu können. Und ich denke an [Raymond Unger](https://tube4.apolut.net/w/wsprDYzUvQSEoHtaEZQrht), der sich mit 40 von allen Fesseln befreit hat, um noch einmal ganz neu als Maler anzufangen, und der dann in Berlin feststellte, dass es der Szene überhaupt nicht um das ging, was ihn in die Kunst gelockt hatte. Anekdotische Evidenz, ich weiß. Ungers Bücherberg ist für mich Beweis genug. Mehr dazu in Kürze in einem Video und am Buch-Tresen.
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