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@ Michael Meyen
2025-02-15 10:56:45
Vielleicht hätte Matthias Gehler noch ein drittes Mal ansetzen sollen. Versuch Nummer eins, schreibt er ganz zum Schluss, sei in der Tonne gelandet, nachdem ein Freund gesagt habe, dass niemand ein weiteres Sachbuch über die deutsche Wiedervereinigung brauche – vor allem nicht von einem Autor, der live dabei war. Deshalb sei dann „viel Subjektives“ in den Text eingeflossen. Nun: So viel ist das gar nicht. Freundschaften, steht ebenfalls im „Nachtrag“, seien ihm wichtiger. Und wenn es wirklich Interesse an „allen möglichen erlebten Geschichten aus jener Zeit“ geben sollte, dann schreibe er halt ein zweites Buch (S. 252).
Ich melde hiermit Bedarf an. Matthias Gehler, Jahrgang 1954, war Redakteur beim CDU-Blatt *Neue Zeit*, als die Dinge ins Rutschen kamen. Er wurde Referent von Martin Kirchner, dem neuen Generalsekretär der Partei, und nach der Wahl vom 18. März 1990 Sprecher der Regierung von Lothar de Maizière. Gehler hat mit Kohl gesprochen, mit Gorbatschow, mit dem ersten Bush. Er war Vorgesetzter von Angela Merkel, später dann Chefredakteur beim MDR und immer wieder im Dunstkreis der Macht, mindestens bei irgendwelchen Jubiläen. Es gibt Fotos davon im Buch.
Es gibt auch Geschichten, so ist es nicht. Dass der kleine Dünne und der große Dicke nicht miteinander konnten, wusste man schon, auch von Lothar de Maizière persönlich. Da man seine eigenen Qualitäten schlecht selbst würdigen kann, ist es gut, dass Matthias Gehler noch einmal klarmacht, was die DDR an ihrem letzten Regierungschef hatte. Eine Arbeitsbiene, mit allen juristischen Wassern gewaschen, in jeder Hinsicht gebildet und schon deshalb einem Machtmenschen wie Helmut Kohl überlegen und suspekt zugleich. Gehler erzählt ein paar köstliche Anekdoten über die beiden, die ich hier nicht verraten will, und hat auch einen Seitenhieb für Regine Hildebrandt, die bis heute ein Nimbus umgibt, der offenbar nicht ganz zur historischen Wirklichkeit passt. Die SPD-Frau mit dem losen Mundwerk, so erzählt es jedenfalls Gehler, sei oft blank gewesen, wenn es um das Klein-Klein der Regierungsarbeit ging. Eine Vorlage aus ihrem Ministerium? „Die gibt es nicht.“ (S. 154)
Überhaupt: Es sind die Miniaturen, die dieses Buch wertvoll machen. Die Arroganz von Gorbatschow, sicher, und die Mentalität der Berater aus dem Westen, die sich im Einzelfall auch als „Blockwart“ aufgeführt haben (S. 94), mehr aber noch das Porträt von Franz Jahsnowski, DDR-Diplomat, schon Protokollchef von Ulbricht und nun wegen seiner Erfahrung und seiner Kontakte auch für die Neuen nicht zu ersetzen. Gehler nutzt einen Abend in Brüssel, um aus diesem Leben zu berichten und damit in gewisser Weise auch über die DDR und den Umgang mit ihrem Erbe.
> Als Regierung haben wir Honeckers Protokollchef und seinen Stab übernommen – offiziell aus Wertschätzung, inoffiziell, weil der Laden einfach weiterlaufen musste. Die Geschichte kennt keine Stunde Null. Das geht nur mit fähigem Personal. Mancher Altbundesbeamte hätte es lieber anders gehabt. Wir mussten den Beratern von drüben immer wieder erklären, warum wir Menschen des alten Apparates übernommen haben. Jahsnowski steht für viele Meister ihres Fachs, die plötzlich systementwurzelt zwischen den Welten schwebten und ihren Glauben an den Sozialismus überprüften. (S. 124)
Ich schreibe diese Passage ab, weil ich vermute: Hier ist mein Bedarf nach mehr entstanden. Mag Matthias Gehler seine Merkel-Geschichten für sich behalten. Geschenkt. Ich gönne ihm auch die Euphorie der ersten Amerika-Reise und all das, was jetzt über die Politprominenz jener Tage allenfalls zwischen den Zeilen steht, vielleicht auch aus Angst vor der eigenen Courage. Aber die Ambivalenz, die im Jahsnowski-Porträt aufscheint und dann wieder in der Asbest-Affäre um den Palast der Republik: Da geht noch was. Anders formuliert: Wenn immer wieder die große Freiheit beschworen wird, bei den Märzwahlen 1990 genauso wie bei der letzten Volkskammer, dann ist das für meinen Geschmack zu viel Regierungssprecher und zu wenig Zeitzeuge. Matthias Gehler weiß, wie es gelaufen ist (eine „Materialschlacht“, bei der die CDU sogar mit „Nahe-Weinflaschen“ punktete), und könnte sich Schützenhilfe holen, bei [Daniela Dahn](https://medienblog.hypotheses.org/9726) zum Beispiel. Also ein zweites Buch, bitte.
![1.00](https://route96.pareto.space/bff7b25204f04eb89691ec32b9f79403f291d9c5dcd507d6714f13e519973a78.webp)
*Matthias Gehler: „Wollen Sie die Einheit – oder nicht?“ Erinnerungen des Regierungssprechers. Berlin: edition ost 2024, 256 Seiten, 18 Euro.*
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*Titelbild*: 1990 am Brandeburger Tor. Foto: Merit Schambach (https\://www\.wir-waren-so-frei.de/index.php/Detail/Object/Show/object\_id/392)