@ Patric I. Vogt

Wir verfolgen die Frage, ob der Funktionslogik der Macht ein Schnippchen zu schlagen ist. Dazu ist es notwendig zu untersuchen, ob sich überhaupt undifferenziert nach „der Zukunft“ fragen lässt? Und es damit auch möglich wäre so allgemein zu antworten. Durch genauere Betrachtung des Problems kommen wir zu dem Ergebnis, dass es auf die allgemein und generell gestellte Frage keine gesellschaftlich fruchtbare Antwort geben kann. Dies ändert sich erst, wenn wir die Frage, und damit auch die Antwort, in Aspekte gliedern. Jeder der Aspekte bedarf einer selbständigen Bearbeitung. Dann erschließt sich die Möglichkeit das Problem der Funktionslogik der Macht durch methodische Differenzierung in der gesellschaftlichen Willensbildung zu lösen.

Prelude

Davon, wie wir die Welt verstehen, hängt ab, wie wir handeln. So gesehen ruft die Frage „Zukunft?“ nach der Frage „Wie verstehen wir die Welt?“. Ein Teil der Welt ist unsere Gesellschaft. Welche Paradigmen legen wir dem Verständnis unserer Gesellschaft zugrunde? Denn von den Paradigmen hängt ab, zu welchen Schlüssen wir kommen und welche Gestaltungsideen für die Zukunft wir haben. Ida Rolf – die Erfinderin der strukturellen Integration, heute besser bekannt als Rolfing – fasste das mal in das schöne Bonmot: „Wenn wir von Großvaters Prämissen ausgehen, kommen wir zu Großvaters Schlüssen.“

Die wichtigste und allgemein anerkannte Prämisse in Bezug auf die Gestaltung unserer Gesellschaft ist die, dass überall „Demokratie“ herrschen müsse und jeder im Grundzug doch wisse, was damit gemeint ist. Dennoch ist es uns bisher nicht nachhaltig gelungen mit ihrer Hilfe das Problem der Funktionslogik der Macht, wie Rainer Mausfeld es nennt, zu lösen. Macht hat, einmal etabliert, immer die Tendenz die eigene Stellung zu festigen und sich auszubreiten, so stellt Mausfeld in seinem Buch Hybris und Nemesis[1] fest. Wenn das gilt, müssen wir irgendwie vor die Konstituierung der Macht kommen, um das Problem ihrer Funktionslogik zu lösen. Könnte es also sein, dass wir unser Demokratieverständnis runderneuern müssen?

Um diese Frage zu beantworten, wollen wir uns zunächst klar machen, was ein Systemverbund ist. Das wird uns helfen zu erkennen, dass die Entscheidung für die Demokratie eine Entscheidung für die Anwendung einer bestimmten Methode ist. Und dass diese Methode wie jede Methode Grenzen hat. Und es darum notwendig ist unsere Bemühungen um die Gestaltung unserer Gesellschaft, um weitere Methoden zu ergänzen.

Ein Systemverbund

Ein Auto ist eine feine Sache. Wir können uns hinein setzen und in Urlaub fahren. Damit das geht, wurden verschiedene Systeme zusammen gefügt. Ein System für die Beschleunigung: der Motor mit Kraftstoffversorgung, dem Getriebe, dem Gaspedal usw. Ein System, um gezielt Entschleunigen zu können: die Bremsbeläge, die Bremsscheiben, die hydraulische Druckübertragung, das Bremspedal usw. Und eines, das die Steuerung erlaubt: das Lenkrad, das Übertragungsgestänge usw. Jedes System hat eine bestimmte Funktion. Es ist auf seine Funktion hin angelegt und ist um seiner Funktion willen in den Systemverbund aufgenommen.

Das Antriebssystem, das Bremssystem und das Lenkungssystem sind in sich selbst schlüssige Systeme. Sie folgen ihrer eigenen Logik und müssen aus ihr gedacht werden. Jedem der Systeme liegt ein autonomer Gedankenzusammenhang zugrunde. Und es ist klar, dass wir keines der Systeme missen können, wenn wir wohlbehalten ans Ziel kommen wollen. Es reicht nicht Gas geben zu können, obwohl wir das im Eifer des Alltags manchmal vergessen und einfach nur los wollen. Neben der Möglichkeit Gas zu geben, brauchen wir die Möglichkeit der gezielten und dosierten Abbremsung. Ebenso, wie die Möglichkeit der eindeutigen Lenkbarkeit unseres Gefährts. Jede der genannten Funktionen wird durch eines der Systeme erfüllt. Alle zusammen machen erst ein Auto aus, das den Fahrer sicher ans Ziel bringen kann. Die dazu notwendigen Funktionen lassen sich nur durch das Zusammenfügen verschiedener Systeme zusammenbringen.

Ein Auto ist ein Beispiel für einen Systemverbund: Mehrere in sich selbst schlüssige Systeme stehen in einem Zusammenhang, der als Ganzes wieder in sich selbst schlüssig und darum funktionstüchtig ist, weil jedes System seinen je spezifischen und unentbehrlichen Beitrag leistet. Etwas anders gesagt: ein Systemverbund ist ein Verbund verschiedener Funktionen. Durch das Zusammenspiel wird etwas möglich, was anders nicht zu erreichen ist. In unserem Beispiel die gezielte und sichere Fortbewegung zu Land.

Der Sinn und die Schlüssigkeit, die jedem der einzelnen Systeme innewohnt erklärt sich allein aus ihm selbst. Ein Lenkungssystem ist nicht aus der Logik eines Antriebssystems zu verstehen. Warum? Weil es eine ganz andere Idee ist „Fortbewegung zu veranlassen“ als „Bewegung gezielt zu lenken“. Jedes System ist darauf angelegt seine spezifische Funktion zu erfüllen. Diesen Grundgedanken müssen wir konsequent bis in die Technik zu Ende führen.

So offensichtlich ein System auf seine eigene Funktion hin zu Ende gedacht und mechanisch umgesetzt werden muss, so selbstverständlich darf es nicht mit den anderen Funktionen interferieren. Es darf z.B. im Getriebe – das Teil des Antriebs ist – nicht irgendwo einen Abzweig geben, der unmittelbar zur Lenkung führt, dorthin Kraft überträgt und diese dadurch beeinflusst. Wäre dem so, würde es ziemlich gefährlich, weil weder Lenkung noch Antrieb zuverlässig ihre Bestimmung erfüllen. Eben so wenig darf es einen Zusammenhang zwischen den Leitungen der Bremshydraulik und Kraftstoffzufuhr geben. Auch das würde dazu führen, dass weder das eine, noch das andere System funktioniert.

Zugegeben, ein Auto ist deutlich komplexer als das Zusammenspiel der drei genannten Systeme. Sie alleine machen bestenfalls ein Rohauto aus. Mit Antrieb, Lenkung und Bremsen (plus einem weiteren System, der tragenden Plattform) zu einem Systemverbund zusammengefügt, können wir aber durchaus schon losfahren und im Urlaub ankommen.

Was gewinnen wir mit dieser Auto-Betrachtung?

• [x] Zunächst die Einsicht, dass in einem Systemverbund mehrere Systeme unterschiedliche Funktionen im gegebenen Zusammenhang erfüllen.
• [x] Des weiteren gewinnen wir die Einsicht, dass die einzelnen Systeme ihre jeweils eigene, nur ihnen inhärente Logik haben. Das liegt nahe, da sie ja je spezifische Funktionen erfüllen müssen. Ihre Logik ergibt sich aus ihrer Funktion.
• [x] Und wir gewinnen die Einsicht, dass der unmittelbare Übergriff eines Systems auf ein anderes zerstörerisch Wirkt.

Zusammengefasst: Ein Systemverbund tut seinen Dienst, wenn die einzelnen Systeme, aus denen er besteht, nur aus ihrer eigenen Funktion heraus gedacht und gebaut sind. Und diese nicht in den Funktionsbereich der anderen Systeme übergreifen. Nur so kann jedes System seine Funktion zuverlässig zum Ganzen beitragen, damit dieses seine ihm zugedachte komplexe Aufgabe erfüllen kann.

Wo die Fahrt hin gehen kann

Wohin die Fahrt gehen soll, ist damit noch nicht gesagt. Allerdings schon, ob sie überhaupt angetreten werden kann. Die Frage des Wohin lässt sich durch Systembetrachtungen nicht beantworten. Dazu müssen völlig andere Aspekte ins Auge gefasst werden. Und insofern wir nicht allein unterwegs sind, stellt sich die Frage, wer eigentlich darüber bestimmen soll?  

Genau da kommt die Demokratie ins Spiel; und üblicherweise eben alleine. Denn sie ist der allein anerkannte Weg der gesellschaftlichen Willensbildung, also Entscheidungsfindung. Die Frage „wo soll die Fahrt hingehen?“ könnte demnach ihr Gegenstand sein. Oder anders – auf der Paradigmenebene – ausgedrückt: Demokratie ist Ausdruck des Mehrheitswillens unserer Großgemeinschaft Staat. Was wir durch sie erreichen wollen, ist eine durch die Mehrheit geschaffene Gestaltung des Gemeinwesens.

Wir meinen im Allgemeinen, dass Demokratie grundsätzlich die einzige Art ist, wie ein gemeinsamer Wille gebildet werden kann. Es soll hier aber die Frage gestellt werden, ob dieses Paradigma uneingeschränkt gilt. Denn sonst erleiden wir womöglich das Schicksal derer, die auf eine nicht gestellte Frage natürlich auch keine Antwort erhalten. Als Resultat tritt Bewusstseinsblindheit auf. Also: Welche Art von gemeinsamem Willen kann Demokratie überhaupt bilden und welche nicht? Denn es ist alles andere als evident, dass es grundsätzlich nur eine Art des gemeinsamen Wollens geben kann.

Willensbildung Klappe 1

Damit sind wir also endlich bei der Frage nach unserem Demokratieverständnis angekommen. Reicht das übliche Verständnis, das wir von Demokratie haben, um eine Gesellschaft als Ganzes zu gestalten? Oder wäre der demokratische Prozess – um an unseren Vergleich mit dem Systemverbund Auto anzuknüpfen, wobei wir an Stelle der Systeme die Methoden der Willensbildung setzen – eher als ein System zu verstehen, das also nur seine Funktion beisteuern kann. Das aber erst zusammen mit anderen Systemen, die jeweils ihre Funktionen beisteuern, einen Systemverbund bilden kann, der die komplexere Funktion der Gesellschaftsbildung möglich macht?

Welche Funktion erfüllt Demokratie? Oder sagen wir etwas vorsichtiger: die Erfüllung welcher Funktion erwarten wir von ihr? Das methodische Konzept der Demokratie ist das Feststellen des Mehrheitswillens. Das Abstimmungsprinzip aber löscht im Ergebnis den Willen des Einzelnen aus und stellt ihn unter ein allgemeines, abstraktes Gesetz. Es ist notwendig ein Rasenmäherprinzip: Als Abstimmender bin ich Rasenmäher, als der vom Beschlossenen betroffene, bin ich der Rasen. Das Abstimmungsprinzip gibt mir wie jedem anderen das Recht mitzubestimmen und nimmt mir das Recht über das Entschiedene allein zu entscheiden. Es macht gleich, denn es zählt nur die Mehrheit. Gesellschaftlicher Friede ist gewährleistet, wenn die so beschlossenen Gesetze für alle gleichermaßen gelten und es keine Privilegien oder Korruption gibt. Die große Forderung einer allgemein anerkannten Rechtsordnung, die Sicherheit durch Gleichheit vor dem Recht garantiert, ist, was wir mittels der Demokratie zu erfüllen suchen. Darauf beruht ihre Stärke. Und damit erfüllt sie die Funktion, die wir von ihr erwarten. Denken wir das in sich selbst zu Ende, macht es Sinn. Die methodische Eigenheit des Abstimmungsprinzips ein Rasenmäherprinzip zu sein, macht uns alle gleich. Mit andern Worten, legt das Abstimmungsprinzip mit seiner gesetzschaffenden Kraft die Grundlage für Sicherheit durch eine Rechtsordnung, die die Forderung nach Gleichheit vor dem Recht erfüllt. Das Abstimmungsprinzip ist also methodisch geeignet einen ganz spezifischen Beitrag zu unserer Gesellschaft als ganzer zu leisten: Die Gesetzgebung zu unserem Gesellschaftsbau beizusteuern.

Bleibt die Frage, wo die Grenzen dieses Prinzips verlaufen. Wenn wir diese essentielle Frage nicht stellen, laufen wir Gefahr kein Bewusstsein dafür zu haben, wenn das demokratische Prinzip in noch zu ortende andere Lebensbereiche funktionswidrig übergreift. Finden wir uns mit der Forderung nach Sicherheit durch Recht und Gesetz in unserem ganzen Sein wieder? Dass wir nicht ohne können und wollen ist klar. Aber ist das alles? Oder gibt es andere Seiten an unserem Wesen, die darum auch Platz haben müssen in unserem Gesellschaftsbau? Wir sagen ja auch nicht „danke, ich habe heute schon getrunken, ich muss heute nicht essen“. Wir trinken und wir essen, beides ist essentiell.

Es ist klar und offensichtlich: Wenn das Schaffen von Recht die angestrebte Funktion des Abstimmungsprinzips ist und sie sauber durch die Gleichheit vor demselben erfüllt werden soll, muss die Methode des Mehrheitsprinzips an der Erfüllung jeder jenseits dieser Forderung liegenden Funktion scheitern.

Aber gibt es überhaupt etwas, was jenseits liegt? Na klar! Denn ebenso, wie wir eine Seite an uns haben, von der wir Gleiche unter Gleichen sind, haben wir eine Seite an uns, von der wir im wahrsten Sinne des Wortes voneinander abhängig sind. Wir hören das in unserem modernen Unabhängigkeitsbewusstsein natürlich nicht gern. Aber es ist so: Es gibt eine Seite an uns, die uns schlicht und einfach komplett abhängig voneinander macht. Hier muss der eine für den anderen tätig werden. Ein durch das demokratische Abstimmungsverfahren geschaffener, abstrakter Ordnungsrahmen allein muss nach dieser Richtung hin zwangsläufig versagen.

Willensbildung Klappe 2

Haben Sie sich mal gefragt, was eigentlich passieren muss, damit ein Auto zustande kommt? Für ein Auto habe ich leider kein plastisches Beispiel zur Hand. Für ein Smartphone schon. Vaclav Smil schreibt dazu in seinem Buch Wie die Welt wirklich funktioniert[2]: „Apples in den USA entworfene iPhones werden in einer in taiwanesischem Besitz befindlichen Fabrik (Hon Hai Precision, an der Börse als Foxconn gehandelt) zusammengebaut, die in Shenzhen in der chinesischen Provinz Guangdong steht. Die Bauteile kommen dabei aus mehr als einem Dutzend Ländern, und die fertigen iPhones werden im Rahmen einer sorgfältig einstudierten Marketing-Choreografie weltweit vertrieben.“ Ohne dieses sich über den ganzen Globus erstreckende Zusammenspiel gäbe es dieses kleine Gerät nicht. Etwas spitz gesagt: Der Gedanke der Wirtschaft dadurch wieder einen menschlichen Anstrich zu geben, dass wir allein den Wert regionaler Kreisläufe betonen, ist nostalgisch und nicht realisierbar. Es entspricht nicht der Wirklichkeit, in der wir leben. Unsere arbeitsteilige Gesellschaft bringt notwendigerweise mit sich, dass wir umfassend füreinander arbeiten und also auch voneinander abhängig sind. Denn wir hätten nicht nur keine Smartphones, sondern auch keine Autoreifen und keinen Kaffee zum Frühstück, wenn wir ausschließlich oder auch nur überwiegend regional wirtschaften wollten. Es ist völlig klar, dass unser modernes Unabhängigkeitsbewusstsein – und mir geht es da auch nicht anders – Amok gegen diese Feststellung der totalen Abhängigkeit läuft. Der Gedanke ist einfach nicht auszuhalten. Doch drehen wir ihn einmal in sein positives Licht: Wir sind umfassend global miteinander verbunden und tragen gegenseitig zum Wohlergehen bei! Die Frage ist schon lange nicht mehr, ob wir weltweit verbunden sind. Sondern ausschließlich die, ob wir einsehen können, dass wir im Feld der Wirtschaft untrennbar miteinander verbunden sind. Und aus dieser Einsicht dann zu besseren Lösungsansätzen kommen können. Dass diese nicht aus dem methodischen Ansatz des Mehrheitsprinzips kommen können, das nur abstrakte Regeln aufstellen kann, liegt auf der Hand.

Für den wirtschaftlichen Prozess in Produktion, Handel und Konsumtion sind vielfältige Aspekte zusammenzutragen. Und diese Vielfalt darf gerade nicht verloren gehen. Und vor allen Dingen: Es braucht Fachkenntnis! Nicht jeder kann zu allem etwas sagen, sondern jeder nur zu dem, was er überblickt. Der methodische Ansatz muss also statt der eines nur formalen Abstimmens zu sein, einer sein, der erlaubt die konkreten verschiedenen Fähigkeiten und Lebenserfahrungen zu integrieren. Nur so gelangen wir in diesem Feld zu Entscheidungen, die der Sache dienen können. Die Methode muss das Zusammentragen von Einzelaspekten, die jeweils an verschiedenen Stellen gegeben sind, erlauben. Ein Modell dieser Art ist der Konsent (das t ist kein Tippfehler). Er erlaubt den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bestimmen.[3] Diese „Methode des Zusammentragens von Einzelaspekten", also gegenüber der Abstimmungsmethode – die nur „Ja/Nein" abfragt – geänderte Fragestellung, verändert auch den daraus folgenden Prozess wesentlich. Er wird ein methodischer Prozess der fortwährend integrierenden, also einbindenden Steuerung. Und macht durch das fortlaufende Zusammentragen der verschiedenen Einzelperspektiven und Kenntnisse ein integriertes Urteil möglich. Nur diese Urteilsform erlaubt eine gemeinsame Willensbildung, die im Feld der Befriedigung unserer Bedürfnisse zielführend sein kann.

Neben der Forderung nach einer mehrheitlich anerkannten Rechtsordnung, die nach dem Gleichheitsprinzip realisiert wird und die wir methodisch korrekt mittels des Abstimmungsprinzips beantworten können, können wir nun auch die Forderung nach der Befriedigung unserer Bedürfnisse methodisch sauber beantworten. Das Prinzip der integrativen Urteilsfindung macht es möglich. Ein praktisches Beispiel dafür ist der Konsent-Prozess, wie er im Rahmen der soziokratischen Kreisorganisation in Unternehmen schon seit vielen Jahren geübt wird und methodisch voll entwickelt ist.[4]

Es ist eben irrtümlich zu meinen, dass das allein Entscheidende zur Vermenschlichung der Wirtschaft sei, sie zu regionalisieren. Entscheidend ist, ob nach dem integrativen Prinzip gehandelt wird. Das bringt die Wirklichkeit der weltweiten Arbeitsteilung mit sich. Wir müssen die notwendig von ihr bedingte Zerstückelung bewusst durch die Geste des Zusammenschlusses, der Zusammenarbeit überwinden. Sind wir so weit, ist es nicht so schwer einzusehen, dass hier auch ein anderes Prinzip der Willensbildung als das der Abstimmung greifen muss. Entscheidungen nach einem generalisierenden Mehrheitsprinzip bei dem jeder mitbestimmen kann, haben hier nichts zu suchen. Stattdessen kommt es, wie gesagt, auf eine integrative Urteilsfindung der Fähigen und der Betroffenen an. Was auf diese Weise zustande kommt, hat eine ganz andere Willensqualität. Diese ist nicht auf das Aufstellen von Regeln gerichtet, sondern auf die Gestaltung der Produktion und das Wahrnehmen der Bedürfnisse ausgerichtet. Nur ein Zusammenwirken und eine Entscheidungsfindung auf diese Weise kann unsere Bedürfnisse in der Fülle befriedigen, an die wir gewöhnt sind. Abstrakte Regeln, wie in der Planwirtschaft, als Handlungsanweisungen für wirtschaftliches Handeln sind absolut unproduktiv. Unser wirtschaftlicher Wille ist in die Befriedigung der konkret festzustellenden Bedürfnisse, also die Leistung von entsprechenden Produkten und Dienstleistungen eingespannt.

Die durch die Arbeitsteilung und sinnvolle Zusammenarbeit entstehende Rationalisierung, das sogenannte Kooperationsplus, welches durch die Kooperation entsteht und dadurch unseren Wohlstand ermöglicht, lässt sich übrigens als mathematisches Modell abbilden. Auf der Website www.farmersfable.org wird es anschaulich dargestellt.[5]

Willensbildung Klappe 3

Nun, damit, dass wir getrunken und gegessen haben, ist aber unser ganzes Wesen noch immer nicht vollständig umfasst. Es bleibt eine weitere Blickrichtung, der wir uns zuwenden müssen. Denn auch wenn wir schon getrunken und gegessen haben, müssen wir trotzdem atmen. Das Abstimmungsprinzip ist nach dieser Richtung genauso zum Scheitern verurteilt, wie das Prinzip der integrativen Urteilsfindung. Beide helfen nicht weiter. Das aus dem gleichen Grund, aus dem die Systeme der Be- und Entschleunigung eines Autos nicht die Funktion der Lenkung erfüllen können.

Um was handelt es sich? Wenn Sie jetzt grade diesen Essay lesen, können Sie das Erfassen und Bewerten der Gedanken, die ich Ihnen anbiete, nur ganz alleine leisten.

Wenn ein Autor seine Sache gut macht, schreibt er so, dass Ihnen das Gedankenerfassen leicht gemacht wird, egal, ob Sie ihm nun zustimmend oder ablehnend folgen. Aber ob Sie am Ende die dargelegten Gedanken erfassen, liegt ganz bei Ihnen. Es liegt allein in Ihrer Initiative. Genauso, wie nur van Gogh darüber entscheiden konnte, welchen Farbton er an eine bestimmte Stelle seines Bildes „Sternennacht“ setzte. Oder genauso wie Kopernikus sich zu dem Gedanken durchrang, dass die Sonne den Mittelpunkt unseres Planetensystems bildet. Es gibt einen Aspekt an uns, von dem wir weder Gleiche unter Gleichen sind, noch voneinander abhängig. Es ist der Aspekt unserer ursprünglichen schöpferischen Einmaligkeit. Keine Vorschriften, von außen aufgesetzte Regeln oder irgendwelche Abhängigkeiten helfen da. Der freie Geist will und kann nur aus sich selbst produktiv werden. Das zeigt sich schon am Erfassen eines einzelnen Gedanken. Ein Kulturleben und Bildungseinrichtungen, die diesen Namen verdienen, müssen dem gerecht werden.

Und insofern es hier um eine gemeinsame Willensbildung geht, kann sie immer nur auf freier Initiative und freiem Zuspruch beruhen und nicht auf demokratisch beschlossenen Programmen noch auf wirtschaftlicher Abhängigkeit. Denn diese Willensbildung muss zwangsläufig aus dem Innersten unseres Wesens kommen, sonst ist sie keine Initiative. Es ist eine Willensqualität, die weder in die Notwendigkeiten der Bedürfnisbefriedigung eingespannt, noch dem Rasenmäherprinzip abstrakter Gesetze unterworfen sein kann.

Wir haben es insgesamt also mit drei völlig unterschiedlichen Willensqualitäten und also grundsätzlich unterschiedlichen Arten der Willensbildung zu tun. Soll unser Gesellschaftsbau so geräumig und sinnvoll gestaltet sein, dass wir darin wirklich leben können, muss er dem gerecht werden. Wir müssen entsprechende Formen ausbilden:

• Wir müssen Räume schaffen, in denen der Wille, der der Bedürfnisbefriedigung dient und in sie eingespannt ist, Platz finden kann.
• Und andere Räume, in dem der Wille, sich in einer Rechtsordnung einzufinden, die Sicherheit durch die Gleichheit vor dem Recht garantiert, sich ausleben kann.
• Und Räume, in denen der Wille unserer Individualität, schöpferisch in Freiheit der Entfaltung des eigenen Wesens entgegen zu streben, aufblühen kann.

Wollen wir in Bezug auf letzteres eine konkrete Forderung aufstellen, so liegt nahe Art. 7, Satz 1 des Grundgesetzes ins Auge zu fassen. Er lautet: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“[6] Das steht natürlich diametral gegen das Ergebnis unserer Untersuchung. Denn es heißt im Klartext ja nichts anderes, als „der Staat erzieht sich vormundschaftlich seine Bürger“. Was wieder nichts anderes heißt, als die Wesensentfaltung unter das Prinzip der Gleichheit zu stellen, die durch demokratisch beschlossene sog. Bildungsprogramme und weisungsgebundene Lehrkräfte realisiert wird. Das kann nicht gehen, weil wahre Entwicklung nur auf Initiative und Liebe zur Sache beruhen kann. Alles andere ist Dressur und Entmündigung. Statt einer Schulanwesenheitspflicht brauchen wir ein Recht auf Bildung unter frei gewählten Bedingungen! Das selbstverständlich nur hervorgehen kann aus einem allgemeinen Recht auf freies Geistesleben.

Wenn wir unser Gesellschaftshaus nicht so bauen, dass ein Raum des freien und also selbst organisierten Geisteslebens gesichert ist, werden wir immer in einer dahinvegetierenden Kultur leben, weil das einzig produktive Element derselben permanent ausgetilgt wird: Der freie, schöpferische und selbstverantwortliche Mensch.

Es gibt übrigens eine ganz friedliche Abkürzung in diese Richtung, insofern Sie selbst kulturell tätig sind: Lehnen Sie die Annahme jeder Zahlung von Steuergeldern ab. Das bewirkt Wunder!

Summa summarum

In der Erkenntnis der verschiedenen Willensqualitäten, die uns eigen sind, liegt des Rätsels Lösung für unsere gesellschaftlichen Konflikte. So gesehen stellt sich die Frage nach „der Zukunft“ nicht als einheitliche dar, sondern als in sich differenziert. Ergo muss auch die Aufforderung „Machen!“ sich differenziert zeigen. Denn davon, wie wir die Welt verstehen, hängt ab, wie wir handeln.

Das Mehrheitsprinzip liefert die Grundlage für eine allgemein anerkannte Ordnung, die Rechtssicherheit durch Gleichheit vor dem Gesetz hervorbringt und Mitbestimmung bei dessen Hervorbringung gewährleistet. Diese Rechtsordnung muss dann durch das staatliche Gewaltmonopol nach innen und außen geschützt werden. Selbstredend unter Einhaltung des Uno Gewaltverbots, wie es in der Charta der Vereinten Nationen Artikel 2 Nr. 4[7] formuliert ist. Und selbstredend unter Einhaltung des Aussagekerns bei Transposition auf das Innenverhältnis, also das Individuum.

Das Prinzip des integrativen Urteils schafft die Möglichkeit der zielführenden kooperativen Arbeit im Wirtschaftsleben, das die durch die Arbeitsteilung gegebene Zersplitterung der Gesellschaft überwinden kann. Not und Elend wären die Folge, wollte jemand versuchen alles zur Befriedigung seiner Bedürfnisse nötige selbst zu machen. Bis der Tag rum wäre, hätte er kaum seine nötigsten Grundbedürfnisse gestillt. Und selbst wenn, bliebe fraglich, ob er den Winter überleben würde, denn dafür müssten Vorräte angelegt werden, also mehr geleistet, als nur das tägliche Überleben. So sehr es gegen unser modernes Bewusstsein der Ungebundenheit auch verstößt: In der wirtschaftlichen Sphäre sind wir voneinander abhängig.

Das Prinzip des individuellen Urteils lässt uns über uns selbst hinaus wachsen. Es macht eine lebendige Kultur denkbar, die die Freiheit des Individuums im Zentrum hat und es weder durch Programme zwingt noch durch Finanzierungen verführt. Ein Anfang wäre, wie gesagt, die Ablösung der Schulpflicht durch ein Recht auf selbstorganisierte Bildung, das sich allgemein in ein Recht auf ein freies Geistesleben für jedermann fortsetzt. Welche Gestalt dieses Leben annimmt, ist – im Rahmen der Menschenrechte – natürlich eine ganz individuelle Entscheidung jedes einzelnen. Wes Geistes Kind wir sein wollen liegt in unserer eigenen Hand.

Grenzen der Mechanik

Mit unserem Blick auf einen mechanischen Systemverbund, das Auto, haben wir natürlich kurz gegriffen. Zu kurz, um die volle Wirklichkeit gesellschaftlichen Lebens zu erfassen. Denn wir sind lebendige Wesen. Also müssen wir unsere Gesellschaft auch lebendig denken. Andererseits hat die Beschränkung unseres Vergleiches auf das Feld der Mechanik den Vorteil, dass unmissverständlich deutlich wird: ein System muss seine Funktion zum Ganzen beitragen; das kann es nur, wenn es in sich schlüssig gedacht und gebaut ist. Und dadurch in der Erfüllung seiner Funktion mit den anderen Systemen zu einem komplexeren Ganzen werden kann.

Das gleiche gilt für Methoden: Methoden erfüllen Funktionen. Dass sie ihre spezifische Funktion erfüllen können, bringt zwangsläufig mit sich, dass sie andere nicht erfüllen können. Die Erkenntnis der unterschiedlichen Willensqualitäten macht eine differenzierte Antwort auf die soziale Frage möglich: Wir brauchen drei unterschiedliche methodische Ansätze, um unsere Gesellschaft als Ganzes menschenwürdig zu gestalten. Unterschlagen wir auch nur eine, leugnen wir einen Teil unseres Wesens. Setzen wir sie falsch ein hat es zerstörerische Wirkung. Das muss auf Dauer zu sozialen Verwerfungen führen, die sich im Innern oder Äußern als Unfrieden, ja Krieg, zeigen.

Ein Blick in den Rückspiegel

Zurückblickend können wir also feststellen, dass es möglich ist der Funktionslogik der Macht ein Schnippchen zu schlagen. Durch unsere methodischen Überlegungen kommen wir vor die Konstituierung einer sich zusammenballenden unterschiedslosen und darum krankhaften Macht. Am Ende stellen wir fest, dass die von Mausfeld konstatierte Funktionslogik der Macht nur unter der Voraussetzung eines undifferenzierten Menschen- und damit Gesellschaftsbildes gilt. Statt Macht als etwas zentral Einheitliches aufzufassen, erkennen wir die Notwendigkeit einer Gliederung unserer Gesellschaft in verschiedene Bereiche, in denen wir es mit verschiedenen Qualitäten von Willen zu tun haben.

Quellhinweis

Wir haben mit dieser Betrachtung Ideen des wissenschaftlichen Ansatzes der Dreigliederung des sozialen Organismus verfolgt. Der auf Rudolf Steiner zurückgehende Vorschlag Gesellschaft dreigegliedert zu verstehen ist mittlerweile über 100 Jahre alt. Steiner hat ihn zuerst in seiner Schrift Die Kernpunkten der sozialen Frage[8] ausgeführt und in einer ganzen Reihe von Vorträgen und Aufsätzen weiter erläutert.  

Das Ideenfeld soziale Dreigliederung ist ein Erkenntnisansatz. Er eröffnet die Möglichkeit eines gemeinsamen Bewusstseins von den Bedingungen und Notwendigkeiten der verschiedenen Lebensfelder. Steiner hat immer wieder betont, dass sich die daraus ergebenden zeitgemäßen und praktischen Lösungen jedoch nur in der konkreten Situation finden lassen. So gesehen sind alle im Rahmen von Erörterungen der Dreigliederungsgedanken genannten Lösungsvorschläge nie mehr als Beispiele. Es liegt auf der Hand, dass dem so sein muss, denn es geht ja immer um gemeinsame Willensbildung.

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Patric I. Vogt, geb. 1968 in Mainz. Autor von „Zukunft beginnt im Kopf Ein Debattenbeitrag zur Kernsanierung von Rechtsstaat und Demokratie“. Lebt als freischaffender Künstler, Lehrer und Unternehmer. Über drei Jahrzehnte Beschäftigung mit dem Ideenfeld soziale #Dreigliederung und Anthroposophie. Moderation und Mediation von sozialen Prozessen und Organisationsentwicklung. Staatlich ungeprüft, abgesehen von den Fahrerlaubnissen zu Land und zu Wasser. Motto: Gedanken werden Worte, werden Taten! www.perspektivenwechsel.social

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Verweise

[1] Vergl. Mausfeld, Rainer: Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren (Westend 2023), S. 64

[2] Smil, Vaclav: Wie die Welt wirklich funktioniert. Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit. (C. H. Beck, 1923), S.143

[3] Für eine genauere Beschreibung des Konsent als Beispiel für das Prinzip der integrativen Entscheidungsfindung siehe mein Buch Zukunft beginnt im Kopf. Vogt, Patric: Zukunft beginnt im Kopf. Ein Debattenbeitrag zur Kernsanierung von Rechtsstaat und Demokratie (BoD, 2024), S. 39ff und 115ff

[4] Ein kurzes Einführungsvideo in das Modell der soziokratischen Kreisorganisation stellt Christian Rüther zur Verfügung: www.youtube.com/watch?v=WOnA0kgXRlc. Ebenso Sociocracy For All: www.youtube.com/watch?v=u3JJotOJ7kI.

[5] Auf www.researchers.one/articles/19.03.00004v1 ist ein Paper von O. Peters und A. Adamou verfügbar, das die hinter der Fabel stehende Mathematik herleitet: Ole Peters und Alexander Adamou: An evolutionary advantage of cooperation (2019).

[6] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_7.html

[7] www.unric.org/de/charta

[8] Steiner, Rudolf: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft (Institut für soziale Dreigliederung 2019. Studienausgabe, herausgegeben und kommentiert von Sylvain Coiplet, Erstausgabe des Originals 1919)