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@ Monika Wolff
2025-05-23 13:51:11Staugefahr
Manchmal ist der Lehrer interessanter als der Unterrichtsinhalt. Man lernt dann beiläufig, obwohl das Thema öde ist. Mir ging das vor vielen Jahren so, als ich in meiner Ausbildung zur Krankenschwester Inhalte zum Thema Hygiene lernen durfte. Unser Lehrer für Hygiene duschte morgens in der Schule, bevor er uns unterrichtete, damit er, sauber vor uns sitzend, glaubwürdig über die permanente Gefahr der Mikroorganismen im Klinikalltag reden konnte. Er lebte das, was er predigte. Er bot pathogenen Keimen keinen Nährboden. Er pflegte sich und seine Kleidung penibel. Er trug Hosen, Pullover und Schuhe aus den 70ern, die kaum Gebrauchsspuren aufwiesen. Er blieb Überzeugungen, die er einmal für richtig befunden hatte, treu, war aber stets bereit, etwas Neues anzunehmen, wenn dies Sinn machte. Bevor er jedoch Neues annahm, prüfte er mehrfach gründlich, las Fachliteratur und vermied Gespräche mit Experten.
Er versuchte damals, Entscheidungsträger in der Klinik darüber aufzuklären, wie man mit einfachen Mitteln Infektionen im Hause hätte minimieren können. Meist wurden seine Vorschläge nur zögerlich umgesetzt, obwohl seine Argumente fachlich richtig waren.
Mir kommt es heute mit dem Thema „Trauma“ und „traumatisierte Gesellschaft“ ähnlich vor. Niemand möchte sich mit dem Thema beschäftigen, obwohl doch alle wissen müssten, dass viele unangenehme Verhaltensweisen von Menschen im Alltag oder in der Politik etwas mit diesem Thema zu tun haben. Aber das Thema scheint irgendwie unbequem, mühsam und, vor allem, nicht greifbar.
Ein Trauma kann man genau so wenig sehen wie einen pathogenen Keim, deswegen scheint die Auseinandersetzung mit diesem Thema wie eine unappetitliche und lästige Pflichtaufgabe, die man nur mit spitzen Fingern anfasst, wenn überhaupt.
Wie kann man dieses dringend zu besprechende Thema „Trauma“ sichtbar machen?
Vielleicht geht das mit dem Bild vom Stau auf der Autobahn. Den kennt jeder. Und den Stau kann man nicht übersehen. Große leuchtende Schilder weisen auf ihn hin, damit man nicht unvorbereitet in ihn hinein fährt. Überall wird vor dem Stau gewarnt. Und trotzdem passiert er, denn wir sind der Stau, wir selbst machen den Stau.
Stau passiert, weil es Hindernisse auf unserem Weg gibt.
Der Stau ist VOR dem Hindernis. Die Traumafolgen sind gewissermaßen der Stau in unserem Leben, obwohl das Trauma HINTER uns liegt. Wie geht das? Ein Trauma liegt zeitlich gesehen zwar in der Vergangenheit, aber energetisch gesehen liegt es immer vor uns. Es begleitet uns, verfolgt uns, holt uns ein. Energie kennt kein VOR oder HINTER. Energie ist allgegenwärtig. Sobald das Trauma integriert ist, hört dieser Spuk auf. Aber ein nicht bearbeitetes Trauma stellt definitiv ein Hindernis auf unserem (Lebens)Weg dar. Es liegt dann VOR uns.
Dieser Vergleich humpelt ein wenig, zeigt aber dennoch die einfachen Mechanismen von Trauma auf, wie ich finde.
Auf der Autobahn gibt es also ein Hindernis. Entweder gibt es eine bekannte Baustelle, die wir bereits beim Planen der Route zur Kenntnis genommen haben (Trauma ist bereits gut bekannt). Oder es gibt einen Unfall auf der Strecke vor uns, den niemand absehen konnte (Das frühe Trauma wird in einer Alltagssituation plötzlich aktiviert). Jedenfalls stehen wir dann geplant oder ungeplant im Stau, vielmehr sind wir der Stau. Es geht nur langsam oder gar nicht mehr weiter, obwohl der (Lebens)Motor läuft. Bei Trauma ist das auch so. Trauma bewirkt ganz viel Entwicklungsverzögerung in einzelnen Lebensbereichen. Menschen erlernen mehrere Berufe, brauchen länger, um beruflich anzukommen, heiraten später, mehrfach oder nie. Menschen mit Trauma haben manchmal auch beruflich wie privat große Erfolge, fallen dann aber tief, um dadurch letztlich neu geboren zu werden. Trauma sieht man nicht immer auf den ersten Blick. Es kann auch hinter jeder normalen Fassade stecken. Je nach Schwere des Traumas, kann Trauma auch alle Lebensbereiche gleichermaßen treffen. Das entspricht dann dem Pendler, der regelmäßig Sommer wie Winter im Stau steht und auch schon selbst mal eine Panne, im Stau stehend, hatte.
Man erreicht einfach nicht die Ziele, die man sich selbst gesteckt hat. Man kann dann versuchen, die nächste Abfahrt zu nehmen, einen Umweg zu fahren, während des Staus etwas anderes zu erledigen, sich selbst zu erzählen, dass ein Stau gar kein Hindernis sei, sondern eine prima Gelegenheit, um eine Pause zu machen. Und man kann andere Menschen anrufen und erklären, dass man später komme oder sonstiges tun. Aber man steht im Stau, man ist der Stau. Es geht nicht so weiter, wie gewünscht, und man muss das hinnehmen. Verschiedene unangenehme Gefühle melden sich zwangsläufig. Man stellt sich die Sinnfrage, man schaut, wie andere mit dem Stau umgehen, und man möchte gefühlt nie wieder in einem Stau stehen, weil es nervt. Es bringt einen nicht um, aber es nervt. Und es ist ja nicht das erste Mal. Man möchte so gern ein Leben haben ohne Stau. Das wär´s. Es nervt einfach. Und dann nach langer Zeit, mit Blick auf die Tankanzeige, geht es endlich weiter. Die Autos fahren langsam an und der Verkehr rollt wieder. Man wirft einen kurzen Blick auf das Verkehrshindernis und fährt dann zügig weiter. Denn man will nur noch weg von diesem Streckenabschnitt/ Lebensabschnitt. Der Stresspegel im Körper geht runter, man atmet durch und entspannt sich. Aber es war unschön. Nächstes Mal will man die Route besser planen oder gleich mit dem Zug fahren. Man ist erleichtert und hat endlich die Kontrolle über sein Leben zurück. Jetzt ist alles möglich.
Es gibt viele Parallelen zwischen einem Stau und einem Trauma bzw. den Traumafolgen.
Traumabewältigung ist jedoch viel schmerzhafter, als an einem Verkehrshindernis nach längerer Wartezeit einfach vorbei zu fahren. Und man verpasst auch mehr im Leben als nur eine Stunde Zeit, die man auf leblosem Asphalt verbringt. Der Preis, den man für Trauma bezahlt, ist kaum zu beziffern. Und ein Trauma wirft nicht nur die Sinnfrage auf, sondern auch die Frage nach der eigenen Identität. Im Stau auf der Autobahn weiß ich genau, wer ich bin. Aber nach einem frühen Trauma gehen einige Seelenanteile auf eine lange Reise. Und wenn ein Trauma später im Leben passiert, dann sagen Menschen: „Ich habe mich selbst nicht mehr wieder erkannt.“ Trauma wirbelt alles in Dir durcheinander. Und genau darin liegt die Chance. Du musst jedes Teil, jeden Aspekt Deiner Persönlichkeit einzeln in die Hand nehmen, an den richtigen Ort zurück legen, und dadurch lernst Du Dich selbst kennen (und lieben) wie nie zuvor. Der Gewinn von Traumaarbeit übersteigt den zuvor gezahlten Preis. Das nennt man dann posttraumatisches Wachstum. Man ist erleichtert und hat viel mehr als nur die Kontrolle über sein Leben zurück. Eigentlich ist das schon die ganze Geschichte.
Das riesige Problem an der Traumabewältigung ist halt, dass es ein so schmerzhafter und langwieriger Prozess ist. Aber auch hier gibt es gute Nachrichten. Viel von dem Kummer, den wir „im Stau“ erleben, hat etwas mit unseren positiv wie negativ übertriebenen Erwartungen an uns und andere und dem verloren gegangenen Kulturwissen in Bezug auf das Thema „Trauma“ zu tun. Trauma hat die Eigenart, in Vergessenheit zu geraten. Daher gibt es viele falsche Verkehrsmeldungen diesbezüglich. Deswegen möchte ich mein Erfahrungswissen zum Thema „Trauma“ teilen, weil ich denke, dass das Ängste abbauen kann, sich diesem Thema auf ganz natürliche Weise anzunähern, vergleichbar mit der WDR-Produktion „der siebte Sinn“ und getreu dem Motto „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“.
Man kann jedes Problem aufbauschen oder sachlich betrachten. Und es macht einen riesigen Unterschied, ob man mit einem Problem allein gelassen wird, oder ob man wohlwollende und kundige Hilfe an der Seite hat. Und genau dies sind meine zentralen Kritikpunkte zum Thema. Das Thema „Trauma“ wird als unlösbar hingestellt und dadurch unnötig aufgebauscht. Deswegen muss man dieses Thema quasi schon vermeiden, wenn man sich nicht den Tag verderben möchte. Und in der Folge werden von Experten Hilfen angepriesen, die aber leider oft nicht zuverlässig helfen können, weil das Thema ja unlösbar ist. Der verhängnisvolle Kreis schließt sich, und man kommt ins Schleudern.
Kulturwissen wird verfälscht und verdreht, ein übles Schleudertrauma entsteht.
Nein, mal im Ernst, ich möchte das Thema sachlich betrachten und zumindest Impulse für eine günstige Betrachtungsweise geben. Diese Impulse kommen aus meinen persönlichen Erfahrungen und aus Beobachtungen, die ich gemacht habe. Mir ist bewusst, dass jeder Mensch Verletzungen und spätere Probleme, die daraus resultieren, unterschiedlich erlebt. Aber vielleicht geht es gerade um diesen in unserer Kultur fehlenden analogen, lebendigen und authentischen Austausch von Nicht-Experten über die verschiedenen Verletzungen, die daraus resultierende Probleme und die - sehr wohl - vorhandenen Lösungen.
Trauma ist das, was man draus macht.
Ich persönlich kenne niemanden, der kein Trauma erlebt hat.
Leben bedeutet immer auch, dass man Verletzungen erlebt.
Trauma passiert jedem.
Trauma passiert auch robusten Menschen.
Bestimmte Traumata haben immer sehr ähnliche Traumafolgen. Man ist nicht alleine damit.
Menschen reagieren ähnlich auf bestimmte Ereignisse im Leben, das hängt mit unserem Menschsein, der Biologie und der Evolution zusammen.
Menschen reden nicht gern über ihr Trauma.
Menschen schämen sich für ihr Trauma.
Menschen geben sich selbst die Schuld für ihr Trauma.
Menschen versuchen alles, um ihr Trauma zu vergessen oder ungeschehen zu machen.
Menschen erleben einen tiefen Schmerz durch Trauma.
Menschen werden aggressiv, weil sie selber verletzt wurden.
Menschen werden durch Aggression selbst zum Täter. Diese Gefahr besteht zumindest.
Menschen lehnen sich selbst ab für diese aggressiven Impulse.
Alle Gefühle haben eine Funktion. Auch negative Gefühle haben eine Funktion.
Negative Gefühle beschützen unser Leben.
Deswegen sind auch negative Gefühle im bestimmten Maße gut.
Der Schmerz, der durch Trauma entsteht, hat jedoch eine besondere Funktion.
Streng genommen, ist er kein Gefühl, aber egal.
Er ist jedenfalls der letzte und wichtigste Hüter des Lebens. Man sollte ihn nicht übergehen oder versuchen, ihn weg zu machen. Er ist die rote Ampel, die den Stau regelt.
Eine rote Ampel in einem Stau zu ignorieren, ist verhängnisvoll.
Halte lieber an dieser roten Ampel im Stau, auch wenn es schmerzt.
Dieser Schmerz ist die schwierigste, aber auch wichtigste Herausforderung bei der Traumabewältigung, denn er verzögert Dein ohnehin gestautes Leben noch zusätzlich.
Wer es schafft, die Geduld aufzubringen und sich diesem Schmerz hinzugeben, der erlebt Wunder.
Dieses schlimmste Gefühl bringt Dir quasi Dein Leben und die grüne Welle zurück.
Wenn der Schmerz zu Dir kommt, dann heiße ihn willkommen.
Wir sind gesellschaftlich betrachtet mit unseren unguten Verhaltensweisen mittlerweile im Stau angekommen, und die Ampel, die den Stau regelt, steht auf Rot.
Je ehrlicher wir den Schmerz jetzt zulassen, spüren und nicht wegmachen, desto eher sind wir bereit, unbequeme Veränderungen, die vielleicht mit Verzicht, Orientierungslosigkeit und zaghaften Versuchen zu tun haben, zu beginnen. Im Schmerz wächst ein Bewusstsein dafür, was richtig ist. Und es wächst die Kraft, das Gute zu tun. Der Schmerz macht entschlossen. Der Schmerz zeigt, wo das Lebendige liegt und dass es schützenswert ist. Der Schmerz reduziert unseren Blick auf das Wesentliche, auf das Leben und die Liebe, was aufs Gleiche heraus kommt. Der Schmerz markiert einfach nur die Grenze des Lebens. Und deswegen ist er gut, besonders in diesen Tagen.
Heiße den Schmerz willkommen, er gibt uns alle Information FÜR das Leben.