
@ Michael Meyen
2025-03-13 07:20:56
Kultur. Kunst. Ästhetik. Ich lasse die Ausrufezeichen weg, die mir da entgegenkamen aus dem Publikum in der Ladestation in Köln. Eigentlich sollte es um den „[dressierten Nachwuchs](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/buchwerbung-ii)“ gehen, am Ende waren wir aber doch wieder bei den Leitmedien und damit auch bei der Gegenöffentlichkeit. Herr Meyen, Sie können doch nicht ernsthaft den *Kontrafunk* loben. Diese Opernsängerin. Und überhaupt. Ich, sagte der Mann, den ich im Scheinwerferlicht nicht sehen und folglich auch nicht taxieren konnte, ich höre lieber den *Deutschlandfunk*, trotz der Nachrichten. Das hat Klasse. Das hat Qualität. Geschichte, Tiefe. Wo bitte schön ist das bei Ihren Lieblingen, Herr Meyen?
Ich habe Jenifer Lary verteidigt (die das in ihrer „Musikstunde“ wirklich gut macht, aber das nur nebenbei) und auf die Ressourcen hingewiesen. Hier ein milliardenschwerer Rundfunk, finanziert mit dem Gewaltmonopol des Staates im Rücken, und dort ein paar Mittelständler, die es sich leisten können und wollen, für *Kontrafunk*-Aktien 25.000 Franken in den Wind zu schreiben, und Kleinspender, die so dankbar sind für das, was Burkhard Müller-Ullrich da auf die Beine stellt, dass sie sich zehn oder 20 Euro abzwacken. Vergeblich. Auch am nächsten Tag im [Philosophischen Salon](https://www.philosophischer-salon.de/), einer Privatinitiative von Sabine Marx in der gleichen Stadt, wo nach meinem Vortrag allen Ernstes vorgeschlagen wurde, doch einfach Geld zusammenzutragen, damit „die Besten“ zu ködern und so eine Gegenkultur auf die Beine zu stellen, die mindestens genauso gut ist wie das, was zum Beispiel der *Deutschlandfunk* bietet.
Wenn es nur so einfach wäre. Man muss nicht Pierre Bourdieu gelesen zu haben, um die Magnetwirkung zu sehen, die vom Machtpol der Felder ausgeht – in der Literatur, in der Musik, im Journalismus, in der Wissenschaft. Sicherheit, Geld, manchmal sogar Ruhm. Überhaupt: dazugehören. Mit in der Verlosung zu sein, wenn die großen Bühnen vergeben werden, Preise oder wenigstens Stipendien. Rezensiert werden – und zwar dort, wo die Agenturen hinschauen, die Bibliotheken, die Sponsoren. Ein junger Mensch, der sich bewusst gegen all das entscheidet, habe ich in Köln sinngemäß gesagt, solch ein junger Mensch ist die absolute Ausnahme. Die Folgen spürt jeder, der Personal rekrutieren möchte für Alternativprojekte. Die Folgen spürt auch das Publikum. Wo Konkurrenz und Reibung fehlen, ist es nicht weit bis zur Genügsamkeit, frei nach dem Motto: Meine Follower lieben mich, was also wollt ihr noch von mir?
Ich schicke all das vorweg, um Eugen Zentner würdigen zu können – einen gerade noch jungen Mann, geboren 1979, der alles mitbringt, was es für eine Karriere in der Bewusstseinsindustrie braucht, und der sich nach Versuchen bei der dpa trotzdem gegen die Verlockungen entschieden hat, die das Mitschwimmen abwirft. Ich habe hier schon sein [Buch über die neue Kunst- und Kulturszene](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/die-neue-kunst) gewürdigt und freue mich, dass er sich jetzt als Erzähler versucht – mit Kurzgeschichten über [Corona-Schicksale](https://www.masselverlag.de/Programm/Corona-Schicksale//), wieder erschienen im [Massel-Verlag](https://www.masselverlag.de//). Die Form erlaubt ihm, das zuzuspitzen und zu verdichten, was viele zwischen Mitte März 2020 und dem 7. April 2022 erlebt und erlitten haben – angefangen mit Kollegen und Freunden, die erst oft noch ganz aufgeschlossen auf Videos von Wodarg und Co. reagierten, dann aber den Kontakt abbrachen, als sie sahen, was „man“ von diesen Leuten zu halten hat, bis hin zu purem Hass, als die „Pandemie der Ungeimpften“ ausgerufen wurde und so jeder ermutigt wurde, die „Verweigerer“ in den Dreck zu treten.
Die 15 Geschichten von Eugen Zentner sind düster. Vielleicht muss das so sein, weil die Zeit so war und irgendjemand das festhalten muss, auch jenseits von Sachbuch und Journalismus. Das Schulkind, dem unter der Maske die Luft wegbleibt. Die drei Freunde, die sich trotz Lockdown treffen und in der Wohnung von Uniformierten überfallen werden. Die Polizeiopfer auf den Demos. Der Bruder, der Heiligabend bei Mama platzen lässt, weil die Schwester nicht am Katzentisch sitzen mag. Die Oma, die im Pflegeheim eingesperrt wird und den Verstand verliert, weil sie Tochter und Enkel nicht sehen kann und nicht versteht, warum das alles passiert. Die Figuren kommen eher als Holzschnitt daher, schwarz-weiß. Es gibt zwei „Täter“, wenn man so will, einen Journalisten und eine Krankenschwester, die einen Kampf mit ihrem Gewissen austragen und, wie sollte es anders sein, diesen Kampf bei Eugen Zentner verlieren. Es gibt auch einen Abgeordneten aus einer Regierungspartei, der am 18. November 2020 gegen das Infektionsschutzgesetz stimmen will und sich sicher ist, dass er nicht erpresst werden kann. Wir wissen, wie das in der Wirklichkeit ausgegangen ist.
Die Fiktion, gerade in einer Kurzgeschichte, hat den Vorteil, alles wegwischen zu können, was das reale Leben ausmacht. Die Grautöne vor allem, die aus den Erfahrungen sprießen, die der Einzelne gemacht hat. Der Journalismus darf das (eigentlich) nicht und das Sachbuch sowieso nicht. Eigentlich müsste ich das „eigentlich“ wieder streichen und auch für die Kurzgeschichte den Maßstab nachjustieren – für ein Genre, das vom Autor noch mehr verlangt als ein Roman, weil wenig Platz ist und der Leser trotzdem erwartet, dass buchstäblich „alles“ gesagt wird. Eugen Zentner ist auf dem Weg dahin – in der zweiten Auflage vielleicht sogar mit einem Adlerauge für die Korrektur und beim nächsten Versuch mit noch mehr Ruhe und Geduld, um auch das einfangen zu können, was sich dem Zeitzeugen und Beobachter entzieht. Vielleicht muss man seine beiden Bücher einfach nebeneinanderlegen, um zu Hölderlin zu kommen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Kunst, Kultur, Ästhetik: Der Rufer aus Köln hat Recht. Die Gegenöffentlichkeit braucht mehr davon, wenn sie etwas bewegen will. Die Anfänge sind gemacht. Ein paar davon haben wir am Buch-Tresen aufgegriffen: [Sonja Silberhorn](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/am-waldrand-auch-ein-mord) und [Bernd Zeller](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/theater-mit-system), [Sebastian Schwaerzel](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/schizoid-man) und nicht zu vergessen: [Thomas Eisinger](https://apolut.net/im-gespraech-thomas-eisinger/). Gerade lese ich, dass [Raymond Unger](https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/trauma-gesellschaft) einen Roman geschrieben hat. Geht doch, sogar ohne irgendwelche Multimilliardäre.

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*Titelbild*: Alexa @Pixabay