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@ Monika Wolff
2025-05-02 13:25:06Frieden braucht die Kapitulation, keine Gebrauchsanweisung
Wenn Dir ständig jemand erklärt, wie Du etwas zu machen hast, dann machst Du irgendwann gar nichts mehr, sondern wartest nur noch auf die nächste Aufforderung, dies oder jenes zu tun.
Manchmal ist das gut so, aber meist ist diese abwartende Haltung eine Vorlage für andere Menschen, die nichts Gutes im Schilde führen. Sie nutzen dieses entgegengebrachte Vertrauen aus und geben Anweisungen, die nur ihnen selbst dienen und sonst keinem. Das Phänomen ist hinreichend bekannt.
Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, warum Menschen auf Aufforderungen von anderen warten. Das ist offensichtlich früh gelerntes Verhalten, wie so vieles im Leben. In meiner Kindheit habe ich auch viele dysfunktionale Verhaltensweisen gelernt, aber exakt diese nicht, da ich kaum Aufforderungen erhielt. Ich hätte gerne welche erhalten. Meine Eltern waren aber meist mit sich selbst und den Anforderungen des Alltags beschäftigt.
Mein Vater war 11 Jahre und meine Mutter war 8 Jahre alt als der zweite Weltkrieg endete. Zwanzig Jahre später kreuzten sich ihre Wege, sie heirateten und bekamen drei Kinder. Sie kümmerten sich um alle praktischen Aufgaben, sorgten für Sicherheit, ein schönes Zuhause und materiellen Wohlstand. Ich muss schlucken beim Schreiben dieses Satzes.
Mit 11 Jahren fing ich an, Tagebuch zu schreiben, weil ich so vieles nicht verstand. Trauma wird weiter gegeben, wenn es nicht aufgelöst wird. Ich hätte, wie gesagt, gerne mal klare Aufforderungen und Anweisungen gehabt. Ich suchte in der Schule und in meinen Ausbildungen nach Antworten, fand sie aber nicht. 1990 war ich 20 Jahre alt und startete nicht gut vorbereitet ins Erwachsenenleben. Wenn ich heute auf die letzten 35 Jahre zurück blicke, dann verstehe ich so viel, dass mir schwindelig wird. Heute mag ich mich und bereite mich daher nur noch selten auf etwas vor. Diese Erkenntnis ist aber nicht über Nacht gekommen. Das hätte ich wohl kaum überlebt. Die hierzu notwendigen Krisen in meinem Leben kamen in regelmäßigen Abständen und waren wohldosiert. Mit Krisen kenne ich mich aus. Krisen folgen immer demselben Muster, egal ob persönliche oder globale.
Wer bin ich, und warum schreibe ich hier einen Artikel über Frieden?
Ich bin eine Psychologin, die sich für ihr Leben gern mit Trauma beschäftigt. Das ist, nebenbei bemerkt, eines der positivsten Themen, die es gibt. Aber dazu erzähle ich ein anderes Mal. Ich bin das Kind meiner Eltern, Spätentwicklerin und die Eiskönigin nach der Verwandlung. Menschen, die meine Geschichte nicht kennen, halten mich für stark, obwohl ich auch nicht stärker bin als andere. Bewältigtes Trauma macht einen stark. Seitdem ich vor ein paar Jahren meinen persönlichen Knoten gelöst habe, folge ich nur noch meinem Herzen, was unglaublich polarisiert. Ich kann jetzt nicht mehr anders. Früher habe ich mein Herz zwar auch schon deutlich gehört, aber überholte Glaubenssätze hatten oft das letzte Wort und bestimmten mein Handeln. Das war dann nicht selten der innerliche Spagat, um es vor allem anderen recht zu machen. Die leere Batterie, die ich mehrmals kennen lernen durfte, hat mich dann gelehrt, es anders zu machen. Heute achte ich auf meine sehr feine Wahrnehmung und auf meine Bedürfnisse. Das kommt aber meistens auch anderen zugute.
Wer gelernt hat, sich selbst so anzunehmen wie er ist, was gleichzusetzen ist mit Schmerz, der möchte anderen keinen Schmerz zufügen. Eigentlich könnte ich an dieser Stelle den Artikel schon beenden.
Selbstliebe und Schmerz sind unzertrennliche Freunde. Aber dazu erzähle ich auch ein anderes Mal.
Heute möchte ich etwas dazu sagen, warum ich für den Frieden keine Gebrauchsanweisung brauche, sondern die Kapitulation.
Ich bin dem Krieg * in* mir begegnet. Dieser Krieg hat in meinem Außen über lange Zeit für Unruhe gesorgt, und er hat meine Batterie im Innern dadurch öfters leer gezogen. Er war immer berechtigt, begründet und gerechtfertigt, aber dennoch nicht gut für mich oder andere. Im größten Schmerz, den ich je empfunden habe, kam dann 2018/19 endlich der Frieden in mein persönliches Leben. Ich musste dafür nichts tun. Ausrufungszeichen. Den Frieden bekam ich quasi geschenkt, weil ich aufgehört hatte zu kämpfen, weil ich mich dem Schmerz hingegeben hatte, weil ich es akzeptiert hatte, am Boden zu liegen.
Alle wollen Frieden, aber niemand will am Boden liegen.
Kann ich gut verstehen, aber meine Erfahrung ist genau diese, dass Du gefühlt am Boden liegen musst. Frieden kann man „machen“ durch bewusstes Unterlassen von verbalem Zurückschlagen und von Ablenkungs- oder Vermeidungsverhalten, um den eigenen Schmerz nicht spüren zu müssen. Nach diesem Verzicht kann man dann Wut und Schmerz deutlicher oder sogar hervorragend spüren, und dann kommt das Geschenk. Der Frieden durchflutet Dich in einem Moment, in dem Du es nicht erwartest. Frieden kommt, wenn die Situation gefährlich und existenziell bedrohlich wird. Der ganze Körper entspannt in einem einzigen Moment. Das ist wie eine Erlösung. Man sagt nicht umsonst, dass es schön sei, wenn der Schmerz aufhöre. Das stimmt wirklich. Da passiert auch auf biologischer Ebene ganz viel. Körpereigene Stoffe, die schmerzfrei und unglaublich leicht fühlen lassen, werden in Hülle und Fülle ausgeschüttet. Die Evolution hat an alles gedacht. Sie lässt Dich nicht im Stich, wenn es dicke kommt. Frieden ist ein unbeschreiblicher Zustand. Wenn Du den einmal gespürt hast, dann ist der Weg frei, und dann brauchst Du keine Gebrauchsanweisung mehr. Dieser Moment verändert Dich für immer. Du hast eine Erfahrung gemacht, die Dir keiner mehr nehmen kann. Ich habe diese Erfahrung damals alleine gemacht, weil ich niemanden hatte, dem ich mich anvertrauen wollte. Das war ganz unspektakulär im Wohnzimmer. Aber diese Erfahrung, für die es tausende von Bezeichnungen gibt, verändert Dein Leben von Grund auf. Schön ist, wenn man jemanden an seiner Seite hat, der einfach nur zuhört und ab und zu einfach mal was Nettes sagt. Und genau das ist so schwer, so jemanden zu finden, der gerne bei einem sein möchte, wenn man gerade gefühlt stirbt. Die meisten Menschen laufen dann weg oder sagen: „Jetzt reiß Dich mal zusammen.“
Frieden ist nichts für schwache Nerven.
Wenn Du Frieden einmal selbst am eigenen Körper erlebt hast, dann gehst Du anders in Auseinandersetzungen (und globale Krisen) hinein, weil Du diesen Mechanismus kennen gelernt hast, weil Du weißt, dass Du geschützt bist. Das Leben liebt Dich und arbeitet für Dich. Immer. Mit diesem Wissen ausgestattet, kannst Du leichter ruhig bleiben, wenn es nicht so gut läuft, wenn es brenzlig wird, auch wenn große Dinge in der Welt schief laufen. Der Schmerz ist nicht mehr Dein Feind, den es unbedingt zu vermeiden gilt. Jetzt wird es kurios. Ich mag sicherlich keinen Schmerz, aber ich laufe vor „dem Schmerz“ nicht mehr davon. Oft empfinden wir Schmerz schon, wenn jemand unsere Glaubenssätze triggert. Ich schau mir den Schmerz an, fühle rein und höre zu, was er mir sagen will. Und in den meisten Fällen ist es gar nicht MEIN Schmerz. Jemand greift mich an, weil er selber Ängste hat, sich getriggert fühlt oder sonst etwas hat oder nicht hat. Ich bin irritiert und vielleicht auch wütend, weil es weh tut, aber genau dann kommt dieses erfahrene Wissen zum Einsatz und legt die rettende Pause in mein Denken und Handeln ein. Ich reagiere nicht mit einem Schlagabtausch, und freu mich umgehend unglaublich über mich selbst. Und dann laufen die Dinge für mich. Ich brauche nur Geduld. Der andere hat jetzt etwas zum Nachdenken. Wenn man nicht zurück schlägt, dann hat der andere etwas zum Nachdenken. Das ist jetzt die Kurzfassung der Geschichte. Jedenfalls aktiviert dieses Unterlassen von Schlagabtausch auch in den schwierigsten Zeitgenossen etwas Gutes. Versprochen. Und dieses Gute fängt dann an zu arbeiten, für mich, für uns alle und vor allem für den Frieden.
Das Ganze ist eine komplexe Erfahrung, die ich erst persönlich gemacht habe, dann aber auch bei anderen beobachten und raushören konnte. Über das Phänomen wird viel geredet. Aber zentral wichtig ist mir zu sagen, dass der Frieden kommt, wenn Du aufgibst, nicht mehr kämpfst, auf einen Schlagabtausch verzichtest. Das gilt für Deine Freundschaften, für Deine Partnerschaft, für Deine Familie und für das Land, in dem Du lebst. Frieden entsteht im Streit, im Krieg. Frieden entsteht, wenn die Situation einen unglaublich verletzt, wütend und fassungslos macht. Die Evolution braucht Dich an Deinem persönlichen Siedepunkt, Schmelzpunkt. Nenn es, wie Du willst. Im Schmerz öffnet sich ein Zugang zu einem anderen Bewusstsein. Du wirst weit auf allen Ebenen. Alles, was Du auf Deinem Weg mal verloren hast, kommt zu Dir zurück. Der Schmerz repariert erst Dich und dann alle anderen, mit denen Du zu tun hast. Menschen, die diese Erfahrung am eigenen Körper gemacht haben, schauen anders auf und in diese Welt, weil sie diese andere Welt, dieses weite Bewusstsein, kennen gelernt haben. Es gibt viele Wege zu diesem weiten Bewusstsein und, nebenbei bemerkt, auch viel Zensur zum Thema in der wissenschaftlichen Welt, aber auch im Mainstream. Ich persönlich habe das Phänomen am eigenen Körper kennen gelernt, bevor ich einen Namen dafür hatte. Aber der wichtige Punkt ist, wenn mich jemand fragen würde, was man mitten im Krieg tun kann, dann würde ich sagen: „Lass den Schmerz zu.“
Soll das etwa heißen, dass der ganze Widerstand aktuell für die Katze ist? Nein, natürlich nicht.
Über Missstände berichten? Ja. Schuldige benennen? Ja. Rechtsstaatliche Maßnahmen? Ja.
Aber lass Deinen Schmerz zu. Spür nach, was genau Dich so wütend macht. Frag Dich konkret, warum Dich das Verhalten von XY so trifft. Warum kann Dich jemand, den Du gar nicht persönlich kennst, so fassungslos machen? Und dann kommen wir alle unweigerlich zu uns selbst. Was ist mir so unglaublich wichtig? Und warum? Und was hat das mit meinen Wunden zu tun?
Mich kann man heute auch immer noch triggern, weil ich ein Mensch aus Fleisch und Blut bin. Aber ich setze mich jedes Mal wieder hin und schaue es mir an, was da noch weh tut in mir. Und dann bin ich bei mir. Und dann geht’s um mich. Und dann gebe ich mir alles Gute, Nährende, Pflegende und Aufmunternde. Das tut mir gut und bringt mich weiter. Und mit dieser Haltung kann ich dann wieder auf Menschen zugehen, denen ich nicht aus dem Weg gehen kann. Und Menschen, die dieser Gesellschaft aktiv Schaden zufügen, kann ich nicht aus dem Weg gehen. Sie sägen an meinem Baum. Sie sägen, aber ich stell mich immer wieder daneben. Ich rede mit ihnen wie mit einem normalen Menschen. Ausrufungszeichen. Ich adressiere das im anderen, was ich wachsen sehen möchte. Ich brauche Pausen, aber ich bleibe ruhig, denn nur so arbeitet das Gute im anderen für mich, für uns alle, für den Frieden. Das Gute im anderen ist in 99,9 % der Fälle da und erreichbar, ist zumindest meine Erfahrung.
Die Erfahrung von Frieden kann mir keiner mehr nehmen.
Und eine Gebrauchsanweisung für den Frieden brauche ich auch nicht mehr.
Kapitulation bringt Frieden.