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@ Andreas’ Denk Bar
2025-04-20 19:54:32Es ist völlig unbestritten, dass der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine im Februar 2022 strikt zu verurteilen ist. Ebenso unbestritten ist Russland unter Wladimir Putin keine brillante Demokratie. Aus diesen Tatsachen lässt sich jedoch nicht das finstere Bild des russischen Präsidenten – und erst recht nicht des Landes – begründen, das uns durchweg vorgesetzt wird und den Kern des aktuellen europäischen Bedrohungs-Szenarios darstellt. Da müssen wir schon etwas genauer hinschauen.
Der vorliegende Artikel versucht derweil nicht, den Einsatz von Gewalt oder die Verletzung von Menschenrechten zu rechtfertigen oder zu entschuldigen – ganz im Gegenteil. Dass jedoch der Verdacht des «Putinverstehers» sofort latent im Raume steht, verdeutlicht, was beim Thema «Russland» passiert: Meinungsmache und Manipulation.
Angesichts der mentalen Mobilmachung seitens Politik und Medien sowie des Bestrebens, einen bevorstehenden Krieg mit Russland geradezu herbeizureden, ist es notwendig, dieser fatalen Entwicklung entgegenzutreten. Wenn wir uns nur ein wenig von der herrschenden Schwarz-Weiß-Malerei freimachen, tauchen automatisch Fragen auf, die Risse im offiziellen Narrativ enthüllen. Grund genug, nachzuhaken.
Wer sich schon länger auch abseits der Staats- und sogenannten Leitmedien informiert, der wird in diesem Artikel vermutlich nicht viel Neues erfahren. Andere könnten hier ein paar unbekannte oder vergessene Aspekte entdecken. Möglicherweise klärt sich in diesem Kontext die Wahrnehmung der aktuellen (unserer eigenen!) Situation ein wenig.
Manipulation erkennen
Corona-«Pandemie», menschengemachter Klimawandel oder auch Ukraine-Krieg: Jede Menge Krisen, und für alle gibt es ein offizielles Narrativ, dessen Hinterfragung unerwünscht ist. Nun ist aber ein Narrativ einfach eine Erzählung, eine Geschichte (Latein: «narratio») und kein Tatsachenbericht. Und so wie ein Märchen soll auch das Narrativ eine Botschaft vermitteln.
Über die Methoden der Manipulation ist viel geschrieben worden, sowohl in Bezug auf das Individuum als auch auf die Massen. Sehr wertvolle Tipps dazu, wie man Manipulationen durchschauen kann, gibt ein Büchlein [1] von Albrecht Müller, dem Herausgeber der NachDenkSeiten.
Die Sprache selber eignet sich perfekt für die Manipulation. Beispielsweise kann die Wortwahl Bewertungen mitschwingen lassen, regelmäßiges Wiederholen (gerne auch von verschiedenen Seiten) lässt Dinge irgendwann «wahr» erscheinen, Übertreibungen fallen auf und hinterlassen wenigstens eine Spur im Gedächtnis, genauso wie Andeutungen. Belege spielen dabei keine Rolle.
Es gibt auffällig viele Sprachregelungen, die offenbar irgendwo getroffen und irgendwie koordiniert werden. Oder alle Redenschreiber und alle Medien kopieren sich neuerdings permanent gegenseitig. Welchen Zweck hat es wohl, wenn der Krieg in der Ukraine durchgängig und quasi wörtlich als «russischer Angriffskrieg auf die Ukraine» bezeichnet wird? Obwohl das in der Sache richtig ist, deutet die Art der Verwendung auf gezielte Beeinflussung hin und soll vor allem das Feindbild zementieren.
Sprachregelungen dienen oft der Absicherung einer einseitigen Darstellung. Das Gleiche gilt für das Verkürzen von Informationen bis hin zum hartnäckigen Verschweigen ganzer Themenbereiche. Auch hierfür gibt es rund um den Ukraine-Konflikt viele gute Beispiele.
Das gewünschte Ergebnis solcher Methoden ist eine Schwarz-Weiß-Malerei, bei der einer eindeutig als «der Böse» markiert ist und die anderen automatisch «die Guten» sind. Das ist praktisch und demonstriert gleichzeitig ein weiteres Manipulationswerkzeug: die Verwendung von Doppelstandards. Wenn man es schafft, bei wichtigen Themen regelmäßig mit zweierlei Maß zu messen, ohne dass das Publikum protestiert, dann hat man freie Bahn.
Experten zu bemühen, um bestimmte Sachverhalte zu erläutern, ist sicher sinnvoll, kann aber ebenso missbraucht werden, schon allein durch die Auswahl der jeweiligen Spezialisten. Seit «Corona» werden viele erfahrene und ehemals hoch angesehene Fachleute wegen der «falschen Meinung» diffamiert und gecancelt. [2] Das ist nicht nur ein brutaler Umgang mit Menschen, sondern auch eine extreme Form, die öffentliche Meinung zu steuern.
Wann immer wir also erkennen (weil wir aufmerksam waren), dass wir bei einem bestimmten Thema manipuliert werden, dann sind zwei logische und notwendige Fragen: Warum? Und was ist denn richtig? In unserem Russland-Kontext haben die Antworten darauf viel mit Geopolitik und Geschichte zu tun.
Ist Russland aggressiv und expansiv?
Angeblich plant Russland, europäische NATO-Staaten anzugreifen, nach dem Motto: «Zuerst die Ukraine, dann den Rest». In Deutschland weiß man dafür sogar das Datum: «Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein», versichert Verteidigungsminister Pistorius.
Historisch gesehen ist es allerdings eher umgekehrt: Russland, bzw. die Sowjetunion, ist bereits dreimal von Westeuropa aus militärisch angegriffen worden. Die Feldzüge Napoleons, des deutschen Kaiserreichs und Nazi-Deutschlands haben Millionen Menschen das Leben gekostet. Bei dem ausdrücklichen Vernichtungskrieg ab 1941 kam es außerdem zu Brutalitäten wie der zweieinhalbjährigen Belagerung Leningrads (heute St. Petersburg) durch Hitlers Wehrmacht. Deren Ziel, die Bevölkerung auszuhungern, wurde erreicht: über eine Million tote Zivilisten.
Trotz dieser Erfahrungen stimmte Michail Gorbatschow 1990 der deutschen Wiedervereinigung zu und die Sowjetunion zog ihre Truppen aus Osteuropa zurück (vgl. Abb. 1). Der Warschauer Pakt wurde aufgelöst, der Kalte Krieg formell beendet. Die Sowjets erhielten damals von führenden westlichen Politikern die Zusicherung, dass sich die NATO «keinen Zentimeter ostwärts» ausdehnen würde, das ist dokumentiert. [3]
Expandiert ist die NATO trotzdem, und zwar bis an Russlands Grenzen (vgl. Abb. 2). Laut dem Politikberater Jeffrey Sachs handelt es sich dabei um ein langfristiges US-Projekt, das von Anfang an die Ukraine und Georgien mit einschloss. Offiziell wurde der Beitritt beiden Staaten 2008 angeboten. In jedem Fall könnte die massive Ost-Erweiterung seit 1999 aus russischer Sicht nicht nur als Vertrauensbruch, sondern durchaus auch als aggressiv betrachtet werden.
Russland hat den europäischen Staaten mehrfach die Hand ausgestreckt [4] für ein friedliches Zusammenleben und den «Aufbau des europäischen Hauses». Präsident Putin sei «in seiner ersten Amtszeit eine Chance für Europa» gewesen, urteilt die Journalistin und langjährige Russland-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz. Er habe damals viele positive Signale Richtung Westen gesendet.
Die Europäer jedoch waren scheinbar an einer Partnerschaft mit dem kontinentalen Nachbarn weniger interessiert als an der mit dem transatlantischen Hegemon. Sie verkennen bis heute, dass eine gedeihliche Zusammenarbeit in Eurasien eine Gefahr für die USA und deren bekundetes Bestreben ist, die «einzige Weltmacht» zu sein – «Full Spectrum Dominance» [5] nannte das Pentagon das. Statt einem neuen Kalten Krieg entgegenzuarbeiten, ließen sich europäische Staaten selber in völkerrechtswidrige «US-dominierte Angriffskriege» [6] verwickeln, wie in Serbien, Afghanistan, dem Irak, Libyen oder Syrien. Diese werden aber selten so benannt.
Speziell den Deutschen stünde außer einer Portion Realismus auch etwas mehr Dankbarkeit gut zu Gesicht. Das Geschichtsbewusstsein der Mehrheit scheint doch recht selektiv und das Selbstbewusstsein einiger etwas desorientiert zu sein. Bekanntermaßen waren es die Soldaten der sowjetischen Roten Armee, die unter hohen Opfern 1945 Deutschland «vom Faschismus befreit» haben. Bei den Gedenkfeiern zu 80 Jahren Kriegsende will jedoch das Auswärtige Amt – noch unter der Diplomatie-Expertin Baerbock, die sich schon länger offiziell im Krieg mit Russland wähnt, – nun keine Russen sehen: Sie sollen notfalls rausgeschmissen werden.
«Die Grundsatzfrage lautet: Geht es Russland um einen angemessenen Platz in einer globalen Sicherheitsarchitektur, oder ist Moskau schon seit langem auf einem imperialistischen Trip, der befürchten lassen muss, dass die Russen in fünf Jahren in Berlin stehen?»
So bringt Gabriele Krone-Schmalz [7] die eigentliche Frage auf den Punkt, die zur Einschätzung der Situation letztlich auch jeder für sich beantworten muss.
Was ist los in der Ukraine?
In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte, sondern immer um Interessen von Staaten. Diese These stammt von Egon Bahr, einem der Architekten der deutschen Ostpolitik des «Wandels durch Annäherung» aus den 1960er und 70er Jahren. Sie trifft auch auf den Ukraine-Konflikt zu, den handfeste geostrategische und wirtschaftliche Interessen beherrschen, obwohl dort angeblich «unsere Demokratie» verteidigt wird.
Es ist ein wesentliches Element des Ukraine-Narrativs und Teil der Manipulation, die Vorgeschichte des Krieges wegzulassen – mindestens die vor der russischen «Annexion» der Halbinsel Krim im März 2014, aber oft sogar komplett diejenige vor der Invasion Ende Februar 2022. Das Thema ist komplex, aber einige Aspekte, die für eine Beurteilung nicht unwichtig sind, will ich wenigstens kurz skizzieren. [8]
Das Gebiet der heutigen Ukraine und Russlands – die übrigens in der «Kiewer Rus» gemeinsame Wurzeln haben – hat der britische Geostratege Halford Mackinder bereits 1904 als eurasisches «Heartland» bezeichnet, dessen Kontrolle er eine große Bedeutung für die imperiale Strategie Großbritanniens zumaß. Für den ehemaligen Sicherheits- und außenpolitischen Berater mehrerer US-amerikanischer Präsidenten und Mitgründer der Trilateralen Kommission, Zbigniew Brzezinski, war die Ukraine nach der Auflösung der Sowjetunion ein wichtiger Spielstein auf dem «eurasischen Schachbrett», wegen seiner Nähe zu Russland, seiner Bodenschätze und seines Zugangs zum Schwarzen Meer.
Die Ukraine ist seit langem ein gespaltenes Land. Historisch zerrissen als Spielball externer Interessen und geprägt von ethnischen, kulturellen, religiösen und geografischen Unterschieden existiert bis heute, grob gesagt, eine Ost-West-Spaltung, welche die Suche nach einer nationalen Identität stark erschwert.
Insbesondere im Zuge der beiden Weltkriege sowie der Russischen Revolution entstanden tiefe Risse in der Bevölkerung. Ukrainer kämpften gegen Ukrainer, zum Beispiel die einen auf der Seite von Hitlers faschistischer Nazi-Armee und die anderen auf der von Stalins kommunistischer Roter Armee. Die Verbrechen auf beiden Seiten sind nicht vergessen. Dass nach der Unabhängigkeit 1991 versucht wurde, Figuren wie den radikalen Nationalisten Symon Petljura oder den Faschisten und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera als «Nationalhelden» zu installieren, verbessert die Sache nicht.
Während die USA und EU-Staaten zunehmend «ausländische Einmischung» (speziell russische) in «ihre Demokratien» wittern, betreiben sie genau dies seit Jahrzehnten in vielen Ländern der Welt. Die seit den 2000er Jahren bekannten «Farbrevolutionen» in Osteuropa werden oft als Methode des Regierungsumsturzes durch von außen gesteuerte «demokratische» Volksaufstände beschrieben. Diese Strategie geht auf Analysen zum «Schwarmverhalten» [9] seit den 1960er Jahren zurück (Studentenproteste), wo es um die potenzielle Wirksamkeit einer «rebellischen Hysterie» von Jugendlichen bei postmodernen Staatsstreichen geht. Heute nennt sich dieses gezielte Kanalisieren der Massen zur Beseitigung unkooperativer Regierungen «Soft-Power».
In der Ukraine gab es mit der «Orangen Revolution» 2004 und dem «Euromaidan» 2014 gleich zwei solcher «Aufstände». Der erste erzwang wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten eine Wiederholung der Wahlen, was mit Wiktor Juschtschenko als neuem Präsidenten endete. Dieser war ehemaliger Direktor der Nationalbank und Befürworter einer Annäherung an EU und NATO. Seine Frau, die First Lady, ist US-amerikanische «Philanthropin» und war Beamtin im Weißen Haus in der Reagan- und der Bush-Administration.
Im Gegensatz zu diesem ersten Event endete der sogenannte Euromaidan unfriedlich und blutig. Die mehrwöchigen Proteste gegen Präsident Wiktor Janukowitsch, in Teilen wegen des nicht unterzeichneten Assoziierungsabkommens mit der EU, wurden zunehmend gewalttätiger und von Nationalisten und Faschisten des «Rechten Sektors» dominiert. Sie mündeten Ende Februar 2014 auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in einem Massaker durch Scharfschützen. Dass deren Herkunft und die genauen Umstände nicht geklärt wurden, störte die Medien nur wenig. [10]
Janukowitsch musste fliehen, er trat nicht zurück. Vielmehr handelte es sich um einen gewaltsamen, allem Anschein nach vom Westen inszenierten Putsch. Laut Jeffrey Sachs war das kein Geheimnis, außer vielleicht für die Bürger. Die USA unterstützten die Post-Maidan-Regierung nicht nur, sie beeinflussten auch ihre Bildung. Das geht unter anderem aus dem berühmten «Fuck the EU»-Telefonat der US-Chefdiplomatin für die Ukraine, Victoria Nuland, mit Botschafter Geoffrey Pyatt hervor.
Dieser Bruch der demokratischen Verfassung war letztlich der Auslöser für die anschließenden Krisen auf der Krim und im Donbass (Ostukraine). Angesichts der ukrainischen Geschichte mussten die nationalistischen Tendenzen und die Beteiligung der rechten Gruppen an dem Umsturz bei der russigsprachigen Bevölkerung im Osten ungute Gefühle auslösen. Es gab Kritik an der Übergangsregierung, Befürworter einer Abspaltung und auch für einen Anschluss an Russland.
Ebenso konnte Wladimir Putin in dieser Situation durchaus Bedenken wegen des Status der russischen Militärbasis für seine Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim haben, für die es einen langfristigen Pachtvertrag mit der Ukraine gab. Was im März 2014 auf der Krim stattfand, sei keine Annexion, sondern eine Abspaltung (Sezession) nach einem Referendum gewesen, also keine gewaltsame Aneignung, urteilte der Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel in der FAZ sehr detailliert begründet. Übrigens hatte die Krim bereits zu Zeiten der Sowjetunion den Status einer autonomen Republik innerhalb der Ukrainischen SSR.
Anfang April 2014 wurden in der Ostukraine die «Volksrepubliken» Donezk und Lugansk ausgerufen. Die Kiewer Übergangsregierung ging unter der Bezeichnung «Anti-Terror-Operation» (ATO) militärisch gegen diesen, auch von Russland instrumentalisierten Widerstand vor. Zufällig war kurz zuvor CIA-Chef John Brennan in Kiew. Die Maßnahmen gingen unter dem seit Mai neuen ukrainischen Präsidenten, dem Milliardär Petro Poroschenko, weiter. Auch Wolodymyr Selenskyj beendete den Bürgerkrieg nicht, als er 2019 vom Präsidenten-Schauspieler, der Oligarchen entmachtet, zum Präsidenten wurde. Er fuhr fort, die eigene Bevölkerung zu bombardieren.
Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ostukraine am 24. Februar 2022 begann die zweite Phase des Krieges. Die Wochen und Monate davor waren intensiv. Im November hatte die Ukraine mit den USA ein Abkommen über eine «strategische Partnerschaft» unterzeichnet. Darin sagten die Amerikaner ihre Unterstützung der EU- und NATO-Perspektive der Ukraine sowie quasi für die Rückeroberung der Krim zu. Dagegen ließ Putin der NATO und den USA im Dezember 2021 einen Vertragsentwurf über beiderseitige verbindliche Sicherheitsgarantien zukommen, den die NATO im Januar ablehnte. Im Februar eskalierte laut OSZE die Gewalt im Donbass.
Bereits wenige Wochen nach der Invasion, Ende März 2022, kam es in Istanbul zu Friedensverhandlungen, die fast zu einer Lösung geführt hätten. Dass der Krieg nicht damals bereits beendet wurde, lag daran, dass der Westen dies nicht wollte. Man war der Meinung, Russland durch die Ukraine in diesem Stellvertreterkrieg auf Dauer militärisch schwächen zu können. Angesichts von Hunderttausenden Toten, Verletzten und Traumatisierten, die als Folge seitdem zu beklagen sind, sowie dem Ausmaß der Zerstörung, fehlen einem die Worte.
Hasst der Westen die Russen?
Diese Frage drängt sich auf, wenn man das oft unerträglich feindselige Gebaren beobachtet, das beileibe nicht neu ist und vor Doppelmoral trieft. Russland und speziell die Person Wladimir Putins werden regelrecht dämonisiert, was gleichzeitig scheinbar jede Form von Diplomatie ausschließt.
Russlands militärische Stärke, seine geografische Lage, sein Rohstoffreichtum oder seine unabhängige diplomatische Tradition sind sicher Störfaktoren für das US-amerikanische Bestreben, der Boss in einer unipolaren Welt zu sein. Ein womöglich funktionierender eurasischer Kontinent, insbesondere gute Beziehungen zwischen Russland und Deutschland, war indes schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Sorge des britischen Imperiums.
Ein «Vergehen» von Präsident Putin könnte gewesen sein, dass er die neoliberale Schocktherapie à la IWF und den Ausverkauf des Landes (auch an US-Konzerne) beendete, der unter seinem Vorgänger herrschte. Dabei zeigte er sich als Führungspersönlichkeit und als nicht so formbar wie Jelzin. Diese Aspekte allein sind aber heute vermutlich keine ausreichende Erklärung für ein derart gepflegtes Feindbild.
Der Historiker und Philosoph Hauke Ritz erweitert den Fokus der Fragestellung zu: «Warum hasst der Westen die Russen so sehr?», was er zum Beispiel mit dem Medienforscher Michael Meyen und mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot bespricht. Ritz stellt die interessante These [11] auf, dass Russland eine Provokation für den Westen sei, welcher vor allem dessen kulturelles und intellektuelles Potenzial fürchte.
Die Russen sind Europäer aber anders, sagt Ritz. Diese «Fremdheit in der Ähnlichkeit» erzeuge vielleicht tiefe Ablehnungsgefühle. Obwohl Russlands Identität in der europäischen Kultur verwurzelt ist, verbinde es sich immer mit der Opposition in Europa. Als Beispiele nennt er die Kritik an der katholischen Kirche oder die Verbindung mit der Arbeiterbewegung. Christen, aber orthodox; Sozialismus statt Liberalismus. Das mache das Land zum Antagonisten des Westens und zu einer Bedrohung der Machtstrukturen in Europa.
Fazit
Selbstverständlich kann man Geschichte, Ereignisse und Entwicklungen immer auf verschiedene Arten lesen. Dieser Artikel, obwohl viel zu lang, konnte nur einige Aspekte der Ukraine-Tragödie anreißen, die in den offiziellen Darstellungen in der Regel nicht vorkommen. Mindestens dürfte damit jedoch klar geworden sein, dass die Russische Föderation bzw. Wladimir Putin nicht der alleinige Aggressor in diesem Konflikt ist. Das ist ein Stellvertreterkrieg zwischen USA/NATO (gut) und Russland (böse); die Ukraine (edel) wird dabei schlicht verheizt.
Das ist insofern von Bedeutung, als die gesamte europäische Kriegshysterie auf sorgsam kultivierten Freund-Feind-Bildern beruht. Nur so kann Konfrontation und Eskalation betrieben werden, denn damit werden die wahren Hintergründe und Motive verschleiert. Angst und Propaganda sind notwendig, damit die Menschen den Wahnsinn mitmachen. Sie werden belogen, um sie zuerst zu schröpfen und anschließend auf die Schlachtbank zu schicken. Das kann niemand wollen, außer den stets gleichen Profiteuren: die Rüstungs-Lobby und die großen Investoren, die schon immer an Zerstörung und Wiederaufbau verdient haben.
Apropos Investoren: Zu den Top-Verdienern und somit Hauptinteressenten an einer Fortführung des Krieges zählt BlackRock, einer der weltgrößten Vermögensverwalter. Der deutsche Bundeskanzler in spe, Friedrich Merz, der gerne «Taurus»-Marschflugkörper an die Ukraine liefern und die Krim-Brücke zerstören möchte, war von 2016 bis 2020 Aufsichtsratsvorsitzender von BlackRock in Deutschland. Aber das hat natürlich nichts zu sagen, der Mann macht nur seinen Job.
Es ist ein Spiel der Kräfte, es geht um Macht und strategische Kontrolle, um Geheimdienste und die Kontrolle der öffentlichen Meinung, um Bodenschätze, Rohstoffe, Pipelines und Märkte. Das klingt aber nicht sexy, «Demokratie und Menschenrechte» hört sich besser und einfacher an. Dabei wäre eine für alle Seiten förderliche Politik auch nicht so kompliziert; das Handwerkszeug dazu nennt sich Diplomatie. Noch einmal Gabriele Krone-Schmalz:
«Friedliche Politik ist nichts anderes als funktionierender Interessenausgleich. Da geht’s nicht um Moral.»
Die Situation in der Ukraine ist sicher komplex, vor allem wegen der inneren Zerrissenheit. Es dürfte nicht leicht sein, eine friedliche Lösung für das Zusammenleben zu finden, aber die Beteiligten müssen es vor allem wollen. Unter den gegebenen Umständen könnte eine sinnvolle Perspektive mit Neutralität und föderalen Strukturen zu tun haben.
Allen, die sich bis hierher durch die Lektüre gearbeitet (oder auch einfach nur runtergescrollt) haben, wünsche ich frohe Oster-Friedenstage!
[Titelbild: Pixabay; Abb. 1 und 2: nach Ganser/SIPER; Abb. 3: SIPER]
--- Quellen: ---
[1] Albrecht Müller, «Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst.», Westend 2019
[2] Zwei nette Beispiele:
- ARD-faktenfinder (sic), «Viel Aufmerksamkeit für fragwürdige Experten», 03/2023
- Neue Zürcher Zeitung, «Aufstieg und Fall einer Russlandversteherin – die ehemalige ARD-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz rechtfertigt seit Jahren Putins Politik», 12/2022
[3] George Washington University, «NATO Expansion: What Gorbachev Heard – Declassified documents show security assurances against NATO expansion to Soviet leaders from Baker, Bush, Genscher, Kohl, Gates, Mitterrand, Thatcher, Hurd, Major, and Woerner», 12/2017
[4] Beispielsweise Wladimir Putin bei seiner Rede im Deutschen Bundestag, 25/09/2001
[5] William Engdahl, «Full Spectrum Dominance, Totalitarian Democracy In The New World Order», edition.engdahl 2009
[6] Daniele Ganser, «Illegale Kriege – Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Eine Chronik von Kuba bis Syrien», Orell Füssli 2016
[7] Gabriele Krone-Schmalz, «Mit Friedensjournalismus gegen ‘Kriegstüchtigkeit’», Vortrag und Diskussion an der Universität Hamburg, veranstaltet von engagierten Studenten, 16/01/2025\ → Hier ist ein ähnlicher Vortrag von ihr (Video), den ich mit spanischer Übersetzung gefunden habe.
[8] Für mehr Hintergrund und Details empfehlen sich z.B. folgende Bücher:
- Mathias Bröckers, Paul Schreyer, «Wir sind immer die Guten», Westend 2019
- Gabriele Krone-Schmalz, «Russland verstehen? Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens», Westend 2023
- Patrik Baab, «Auf beiden Seiten der Front – Meine Reisen in die Ukraine», Fiftyfifty 2023
[9] vgl. Jonathan Mowat, «Washington's New World Order "Democratization" Template», 02/2005 und RAND Corporation, «Swarming and the Future of Conflict», 2000
[10] Bemerkenswert einige Beiträge, von denen man später nichts mehr wissen wollte:
- ARD Monitor, «Todesschüsse in Kiew: Wer ist für das Blutbad vom Maidan verantwortlich», 10/04/2014, Transkript hier
- Telepolis, «Blutbad am Maidan: Wer waren die Todesschützen?», 12/04/2014
- Telepolis, «Scharfschützenmorde in Kiew», 14/12/2014
- Deutschlandfunk, «Gefahr einer Spirale nach unten», Interview mit Günter Verheugen, 18/03/2014
- NDR Panorama, «Putsch in Kiew: Welche Rolle spielen die Faschisten?», 06/03/2014
[11] Hauke Ritz, «Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas», 2024
Dieser Beitrag wurde mit dem Pareto-Client geschrieben.