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@ Freischwebende Intelligenz
2024-11-09 16:33:15
„Hinter der nächsten Ecke kann eine neue Straße auf uns warten oder ein geheimes Portal.“
- J. R. R. Tolkien
„Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt (…)“
- Hannah Arendt, Vita activa
**Prolog:**
*Dieser Text ist der Beginn einer neuen Rubrik in diesem Blog und damit eine Zäsur. Wir alle wissen es, spätestens seit Nietzsche: Wenn du in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund irgendwann zurück. Eine kluge Frau sagte mir einmal: „Where focus goes, energy flows.“ So wichtig es auch sein mag, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen, sie zu analysieren und zu verstehen: Energetisch ist es eine ziemliche Verschwendung. Man kippt Lebensenergie in eine Kloake. Wenn Sie meine Arbeit in den letzten Jahren verfolgt haben, schockiert sie auf dieser Welt vermutlich wenig. Die Herausforderung ist jedoch das wie. Wie soll es weitergehen?
Das Dunkle bekämpft man nicht durch die Beschreibung der Dunkelheit, sondern indem man einen Kontrapunkt setzt. Nur weil man weiß, dass es dunkel ist, wird es deshalb noch lange nicht heller. Dagegen durchbricht schon die kleinste Lichtquelle, die schwächste flackernde Funzel, die Dunkelheit.
Mit der neuen Rubrik „Lichtblicke“ eröffne ich hiermit ein neues Kapitel meines publizistischen Schaffens: Der Blick soll hier auf das Neue, auf das Erhellende, Ermutigende, Aufbauende und oft Unbekannte gehen, in allen Bereichen, egal ob persönliche Entwicklung, Gesundheit, Ernährung, Technologie, Wissenschaft & Spiritualität. Auf die Werkzeuge und Optionen eben, die uns Hoffnung machen, die den Geist erweitern und alte Gewissheiten überwinden. Werkzeuge, mit denen wir Gestalter der Zukunft werden und nicht bloße Konsumenten der Gegenwart bleiben.
Wenn Institutionen wackeln, sicher geglaubte Muster brüchig werden und Prinzipien auf den Kopf gestellt werden, entsteht ein Vakuum. Der kommunistische Theoretiker Antonio Gramsci nannte das “die Zeit der Monster”. Das Alte ist noch nicht gestorben, das Neue noch nicht geboren. Geburtshelfer des Neuen werden wir aber nur, wenn wir der Gegenwart „gewachsen“ sind; wenn wir uns mit den Werkzeugen beschäftigen, die in Richtung des Neuen wachsen. Sind Sie bereit zu wachsen? Dann lade ich Sie hiermit auf eine gemeinsame Reise ein.
Wenn Sie Ideen und Anregungen für Themen, Phänomene, Werkzeuge etc. haben, die in diese Richtung gehen, oder mir Ihre Meinung zur neuen Rubrik mitteilen wollen, schreiben Sie mir gerne. Auch für mich ist es eine Reise des Lernens und Wachsens: kontakt@idw-europe.org*
Paris, im Jahre 1894.
Ein junger tschechischer Künstler schaut kurz vor Weihnachten “zufällig” in einer Druckerei vorbei, was sein Leben verändern sollte. Er war wie viele aufstrebende Künstler nach Paris gekommen, um den Durchbruch zu schaffen. Das Stipendium seines Gönners in der Heimat neigte sich dem Ende zu. Richtig Fuß gefasst hat er nicht, die Zukunft ist ungewiss. Er hat Talent, aber das haben viele, und leben doch von Milchkaffee und Liebe, wie Charles Aznavour es in “La Bohème” besang.
Doch der junge Mann hat auch Ideen, die in ihm schlummern und nur darauf warten, entdeckt zu werden. Er erfährt, dass die bekannte Schauspielerin Sarah Bernhardt unbedingt und dringend Theaterplakate braucht. Der junge Mann erkennt seine Chance, bietet sich an und liefert prompt. Zwei Wochen später ist Paris mit seinen Plakaten zugepflastert. Für Alfons Mucha, so der Name des jungen Mannes, ist es der Durchbruch als Künstler. Es ist zugleich die Geburtsstunde des Art Nouveau, einer neuen Kunstrichtung und gleichzeitig ein Epochenbruch der dekorativen Kunst. Mucha wird zum gefragtesten Maler der Welt, Firmen reissen sich um seine Motive, er führt Werbung und Kunst auf eine ganz neue Ebene, er reist nach Amerika und illustriert sogar in seiner Heimat die Briefmarken und Geldscheine.
**Der ewige Kampf von Chronos und Kairos**
Was bewirkte die glückliche Fügung für Alfons Mucha? Welche Kräfte waren hier am Werk? Und gibt es Möglichkeiten, diese schicksalhaften Begegnungen in ihrer Frequenz und Häufigkeit zu beeinflussen? Warum hatte ein Nikola Tesla nicht nur ein, zwei gute Ideen, die schon allein lebensfüllend gewesen wären, sondern Hunderte? Warum haben manche Menschen eine schicksalhafte Begegnung nach der nächsten, während bei den anderen das Leben in den gewohnten Bahnen vor sich hin plätschert?
Bei den Griechen gab es zwei Zeitebenen und auch zwei Götter der Zeit. Der erste Gott ist Chronos (bei den Römern: Saturn), er symbolisiert die Zeit, die gemessen wird und unerbittlich verrinnt. Mit und Dank Chronos entsteht Ordnung und Kontinuität, aber auch Wiederholung des immer Gleichen. Er ist symbolisiert durch den Großvater mit Rauschebart und Sanduhr, er steht für die objektive Zeit, die immer und für alle gleich ist, die in Sekunden, Minuten und Stunden gemessen wird.
Der zweite Gott ist Kairos, der Sohn des Zeus und rebellische Enkel des Chronos. Kairos ist schon äußerlich ein „Punk“, auf Abbildungen trägt er einen Teilrasur-Schnitt mit auffälliger Locke. Genau an dieser Locke gilt es ihn zu packen. Kairos steht für die subjektive Zeit, die Zeit, welche Chancen und Durchbrüche bietet. Er steht für die Möglichkeit der Veränderung, der Einsichten und Umbrüche, er wird als junger, starker und muskulöser Gott dargestellt. Kairos steht für eine seltene atmosphärisch-kosmologische Verdichtung. Wer den richtigen Zeitpunkt erkennt und nutzt, wird zum Helden seiner Zeit und reitet den Drachen des Zufalls. Das Zeitempfinden ist außer Kraft gesetzt. Wir alle kennen das: Eine Stunde allein im Wartesaal eines kalten Provinzbahnhofs vergeht schleppend langsam. Eine Stunde im Bett mit einer aufregenden Frau vergeht dagegen wie im Fluge.
Wer den Kairos zulässt, der immer wieder (aber manchmal etwas verdeckt) an unsere Tür klopft, öffnet die Tür für wundersame Begegnungen und magische Zufälle. Gedankenblitze und Begegnungen wirken dann wie orchestriert. Der Psychologe C. G. Jung beschrieb dieses Phänomen als „Synchronizitäten“. Man muss dann oft nur innehalten und diese Begegnungen als sinnhaft begreifen. Der sonore Takt des „Chronometers” wird durchbrochen durch das punkige Gitarrenriff des Kairos.
Die chronologische Umklammerung ist die Zeitspur des Alten, die jeden Moment des Kairos vermeiden will, denn das bringt ja die Welt derjenigen durcheinander, die sich auf die Rädchen in ihrer Mechanik verlassen wollen. Zum Kairos gehören Ideen und Eingebungen, Liebe, kreative Schaffensperioden. All das sind für “Opa Chronos” bloße Störungen, die den Lauf der Dinge gefährden. Wer Systeme der Planung errichtet, sei es für sich oder für andere, den stört das Neue, er will jede Erfahrung mit dem Neuen verhindern, den Blick auf Alternativen versperren und vereiteln.
Denn das Neue entsteht durch den Kairos, und nur durch den Kairos. Das Neue ist auch gerne das „Unzeitgemäße“. Viele würden den Zustand des Kairos heute auch als „Flow“ bezeichnen oder als „Serendipity“. Dieser Begriff stammt aus der Erzählung von „Tausendundeiner Nacht“, wo drei ceylonesische Prinzessinnen mit bestimmten Aufträgen entsandt werden, doch ganz andere Dinge finden, als sie erwarteten, frei nach dem Mott: “Erwarte das Unerwartete!” „Serendip“ hieß Ceylon bei den Arabern, so notierte es sich Ernst Jünger im Flugzeug am 3. März 1979 in seinen Aufzeichnungen „Siebzig verweht“.
Wo war das Unerwartete bisher in meiner Generation? Kommt es noch oder war es das schon? Das war im Kern auch Teil meiner Generationenkritik, die ich in den letzten Jahren in vielen Texten verarbeitet habe. Als ich ab 2016 an „Generation Chillstand“ schrieb, war mein Grundgefühl folgendes: Eine ganze Generation sitzt im Silo der von früheren Generationen geschaffenen Welt fest, in ihren Norm-, Zeit- und Arbeitsstrukturen.
**Raus aus dem chronologischen Leben!**
Diese Welt wurde mir als die beste Welt aller Zeiten angepriesen, der Blick darüber hinaus als unnötig oder gar ketzerisch empfunden. Ging es in den letzten Jahren nur noch darum, die alte Welt möglichst lange auszumelken, bevor man sie entsorgt? In besagtem Buch schrieb ich, dass sich irgendwann eine ganze Generation als „Belogene und Betrogene“ vorkommen wird, ähnlich den DDR-Bürgern bis 1989 (diese wurden freilich nach 1990 wie alle anderen weiter belogen). Was bis zu den Millennials ein Charakteristikum jeder Generation war, nämlich die Gegenwart herauszufordern, zur Disposition zu stellen und damit zu erneuern, schien außer Kraft gesetzt. Das Reich des Chronos musste überdauern.
Doch auf nichts hatte ich größere Lust, und wünschte mir das auch für meine Generation, als den Kairos beim Schopfe zu packen. Denn ich sah die Bruchstellen des Alten offen vor mir und die Möglichkeiten des Neuen am Horizont aufscheinen. Seit 2016, als ich meinen Geist öffnete, veränderte sich mein Leben grundlegend: Es wurde risikoreicher und chancenreicher, es wurde bruchstückhafter und freier, optionenreicher und unübersichtlicher, kurz: anders, aufregendender, offener, abenteuerlicher! Doch ist Stabilität in einer brüchigen Zeit nicht ohnehin eine Chimäre?
Mein Weg der Offenheit machte mich zeitweise zum einsamen Wanderer, führte mich an viele Orte, machte mich zum halben Nomaden. Wenn ich die letzten Jahre überschlage, komme ich auf ca. 17 Umzüge. An manchen Orten lebte ich mit nicht mehr als meinem Handgepäck und ein, zwei Büchern. Doch mein Weg führte mich zugleich an einen magischen Ort, oberhalb des Monte Verità von Locarno in den Tessiner Bergen. Hier trafen sich um die Jahrhundertwende die ersten “Früh-Hippies”, bildeten Kommunen, dachten jenseits der gegenwärtigen Welt, die aus Krieg, Zerstörung und Nihilismus bestand.
Zuvor machte die Kunst mit ihren Sezessionen den Bruch zum Gegenwärtigen deutlich, im Wien des späten 19. Jahrhunderts. Die Wandervogel-Bewegung setzte die Jugend in Gang. Schon bei den Römern gab es die Idee des „heiligen Frühlings“ (ver sacrum), ein Auftrag an die Jugend, die Heimat zu verlassen und sich woanders neu zu etablieren – und dabei ein stückweit neu zu erschaffen. C. G. Jung hat dies als Prozess der Individuation psychologisch beschrieben. Der Mensch ist noch nicht fertig, wenn er auf die Welt kommt, er vollendet sich selbst (oder eben nicht).
All diese suchenden Menschen in den Irrungen und Wirkungen der Zeitläufte einte immer die Sehnsucht nach einer anderen Welt. Diese Sehnsucht macht uns zu gemeinsamen Reisenden im Geiste. Doch die Reise ist nur der Anfang. Am Ende sind die Gedanken entscheidend, die zu Worten werden und sich in Handlungen niederschlagen. Diese Handlungen sind das Baumaterial der neuen Welt. Jeder einzelne ist ein kleiner Baumeister an der neuen Welt, wenn er will.
Ich baue gerade begeistert am Pareto-Projekt, an Werkzeugen des unzensierbaren Bürgerjournalismus von unten. Es wird Zeit, dass sich die vielen kleinen Baumeister vereinigen, oder?
Woran bauen Sie?